Es windelt sehr in Cannes. Wenn sich sogleich gar kein Wölkchen in den Warteschlangen verwobenen Bodens brennt, dann reguliert sich der zwingend kontinuierliche Schreibfluss von selbst. Die Blätter schlagen munter aneinander, der Kugelschreiber schlingert nur noch. Umrundet dann schließlich noch Mathieu Amalric hinreißend wie eh und je (da ist er durchaus typisch Franzose) die Warteschlange, dann ist’s ohnehin um jedwede Produktivität geschehen. Was nicht heißt, dass hier nichts zu erleben wäre. Allein die erstaunliche Fülle der täglich in den Pressefächern verteilten Filmflyer und manchmal halben Bücher könnte bislang ein beträchtliches Volumen meines Koffers füllen. Dabei stehen wir doch erst noch am Anfang. Wenn auch mental nicht mehr, aber da muss man (oder hier: frau) eben gewisse Abstriche machen, obwohl man doch vermeintlich die Essenskultur permanent vor der Nase und die Sonne am Himmel hat. Zurück aber zu den morgendlich aus dem Briefkasten gefischten Promotionsgütern: Besonders kleinere Produktionen auch abseits des Wettbewerbs legen darin Geld und Qualität, so dass man deren Budget lieber nicht wissen noch schätzen möchte. Da wird fleißig mit Papierstärken und Oberflächen experimentiert (es reicht von samtig matt über Klavierlack zu stinknormal). Kurz vermerkt heißt das auch: Man blättert durch hübsche Sachen an einem hübschen Ort.

Darunter fiel ebenso Jessica Hausners „Amour fou“, was aber niemals Rückschluss auf die Filmqualität zulässt. Immerhin vermied sie den nach Olivier Dahans „Grace of Monaco“ noch nicht allzu stark vermissten weiteren Rohrkrepierer und entschied sich stattdessen für betucht österreichisches Kino, das sich mehr einer leichten Brise anpasste. Schon viel eher interessant gestaltete sich sogleich das Werk des eben erwähnten Amalric, der mal wieder Regie führte und dazu die Hauptrolle in dem doch schön avantgardistischen Kriminaldrama „La Chambre Bleue“ spielt. Übrigens läuft er da zusätzlich zu anderen Qualitäten gerne vollends nackt durchs Bild. Was im Anschluss leider live nicht vorkam. Soviel zum Thema Selbstkontrolle … (kleiner Einwurf: Ryan Gosling kommt noch!)

Der just folgende vierte Tag sorgte zunächst für geringe Warteschlangenverwirrung, als das System für „The Rover“ nämlich erstmal schlicht ausfiel. Da sorgten sich schon einige rosafarbene Grieskrämer (ohne gelben Punkt wohlgemerkt) um ihren Verbleib, denn es konnte ja nicht sein, dass mal ein Gelber früher den Saal betreten sollte. Wozu es auch nicht kam, aber (was viel wichtiger ist): man kam ja doch rein. Dieses Prozedere setzte sich perfektionierter bei den folgenden zwei Beiträgen fort, die beide den diesjährigen Wettbewerb unsicher machen: zum einen Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“, zum anderen Alice Rohrwachers „La Meraviglie“. Ersterer fesselte wie selten ein vor allem von Dialogen beseelter Film mit beinahe dreieinhalb Stunden Laufzeit (also doch nichts mit dem winterlichen Schlaf). Während der Italiener selbst bei knapp unter zwei Stunden gewisse Problem erkennen lies, überhaupt in eine Erzählung einzusteigen, die nicht nur süß und ziemlich redundant ist. Den Honig im Film hätte ich dagegen durchaus mal kosten wollen. Und wieder kommt das Thema Hunger auf. Aber auf auf, die nächste Schlange wartet!

Besprechungen im Überblick

„Amour fou“ (Ausführliche Kritik)

Heinrich von Kleist (Christian Friedel) möchte sterben. Durch eine Pistole, er preparierte gleich zwei, um einer Fehlzündung ersterer vorzubeugen. Aber der Tod, der soll möglichst nicht allein geschehen, denn der Einsamkeit und Tristesse eben jenem Lebens möchte man ja zumindest endlich entfliehen. Aber die geeignete Partnerin, die bietet sich nicht sogleich an. Allzu leicht gestaltet sich das Ableben des Dichters von Kleist daher nicht. Mit einem zuckenden Lid und gewiss einigem Schmunzeln ist dem Tod da gleich eher beizuwohnen, meint Jessica Hausner in ihrer „Amour fou“, welches ein weiteres Werk ihrerselbst in der Reihe Un Certain Regard kennzeichnet (zum Wettbewerb also scheint’s nicht mehr weit). Nach „Lourdes“, diesem zynisch verspielten Spiel um Religiösität und den Kampf mit dem Gottesglaube, ist dies ebenso traditionell österreichisch betuchtes Kino mit unterdrückter Klassik und erstaunlicher Komik.

„The Rover“ (Ausführliche Kritik)

Da blickt man nun erst auf Rey, ein klaffender Schuss lässt seinen Magen krampfen, bis der filmische Zufall mit seinem Schicksal kollidiert. Aber das Schicksal kommt früher, obgleich in „The Rover“ alles ein wenig später einsetzt. Manchmal sogar setzt es dann ein, wenn schon nichts mehr einsetzen kann, weil die Szenarie schon aus-, aber noch nicht aus dem Ruder läuft. Ein Zucken spielt fortwährend um Reys Mundwinkel, eine Unsicherheit läuft aus und die Kommunikation, nun, die kommt in dieser Welt ohnehin nicht mehr zustande. Die Mannfindung schließlich übernimmt Eric mittels einer Knarre und Rey selbst mit dem Tod. Überhaupt stirbt bei Michôd zunächst und nur der Körper weg, weil die Seele schon genommen wurde. Der verrottende Rest der Menschheit schleppt sich derweil in die Minen des Landes, damit Asien die nötige Nährstoffversorgung erhält. Aber der Mensch ist nur noch Tier, er tauscht Geld aus, aber es ist nicht mehr als Papier; er trinkt Schnaps, aber die Trunkenheit befreit ihn nicht mehr.

„Winter Sleep“ (Ausführliche Kritik)

Im zeitgenössischen Film bedeutet das Wort noch immer alles oder häufiger nichts. In „Winter Sleep“ meint es die kleine Welt einiger Menschen sanft und unmerklich aus den Angeln zu heben. Es spitzen sich Monologe und Dialoge zu Dolchen, die beißend ins Fleisch schneiden. Hört man hier genau hin, dann wird man für sehr lange Zeit den Nachwehen dieses Films verfallen, der sich an der Kommunikation zwischen den Menschen wetzt, reibt und immer und immer wieder mitten ins Herz sticht. Diese kleine Welt weckt in ihrem Labyrinth an Widersprüchen erst Vertrauen und später Erinnerung, bis sie in ihrem Handeln entlang unscheinbarer Grenzen Wege aufstößt, die sich erst Zug um Zug nochmals gabeln. Das Kino Nuri Bilge Ceylans war einst Bild, nun ist es Wort. Aber es ist immer stilles Gefecht. Und „Winter Sleep“ die großartige Symbiose neuer und ursprünglicher Motive eines türkischen Regisseurs, der den Wandel im kleinen fordert.

Meinungen

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