Schließen wir die Augen und versetzen uns einen Moment lang zurück in eine schöne farbenfrohe, heile Welt: „Heidi“ lief freudestrahlend durchs Alpengrün; „Die Biene Maja“ erkundete mit dem verschrobenen Willi das Reich der Insekten und Wiesenwesen. Es war eine Zeit der Unschuld und der Sicherheit, in der Kinder bedenkenlos alles Animierte anschauen durften, was über die Bildschirme lief. Die knuddelig harmlosen Helden aus Fernost fügten sich nahtlos in eine Reihe mit Mickey Mouse und in die westlichen Vorstellungen altersgerechter Unterhaltung. Aber auf einen Schlag wurde diese friedliche Welt hinweggeblasen. Mit einem Paukenschlag zerfetzte eine Atombombe das alte Tokio und die Sehgewohnheiten des Publikums außerhalb Asiens wurden maßgeblich gerade gerückt. „Akira“ ist und bleibt ein Ausnahmeklassiker der japanischen Comic-Kultur. Schon opulent und facettenreich in gezeichneter Form und erst recht in Gestalt dieses visionären Mahlstroms aus Cyperpunk und apokalyptischen Bildersturms, die Katsuhiro Ôtomo 1988 auf der Leinwand entfesselte. „Akira“ ist dieser eine Film, der eine Zeitenwende markierte und Begriffe wie Manga und Anime im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit verankerte. Mit einem Ruck versetzt Ôtomo den Zuschauer ins Neo-Tokio, welches sich als Phönix aus der Asche aus den Trümmern des Dritten Weltkriegs erhebt. Es ist eine gigantomanische Mega-City, die radikal changiert zwischen Fortschritt und zivilisatorischen Altlasten wie Überbevölkerung, Armut und Korruption.

Es bedarf schon vorsätzlicher Ignoranz, um sich der gesellschaftlichen Betrachtung von „Akira“ zu verschließen. Die monströsen Bauten, das schillernde Licht futuristischer Verheißung stehen im radikalen Kontrast zum elenden Lebensstandard, dem die jugendlichen Hauptfiguren Kaneda und Tetsuo entspringen. Als Biker haben sie nichts am Hut mit dem Ruf nach Revolution oder der wachsenden Schar von Endzeitfanatikern. Ihr Weg aus der Krise folgt dem Credo, das Marlon Brando in „Der Wilde“ oder Peter Fonda in „Die wilden Engel“ vorlebten. Trotzdem werden auch sie urplötzlich erfasst vom sich anbahnenden Sog, der langsam aber sicher Neo-Tokio verschlingen wird. Während eines Kräftemessens mit einer rivalisierenden Gang kollidiert Tetsuo sprichwörtlich mit einem merkwürdig greisen Jungen, der aus dem Nichts auftaucht. Das Militär erscheint auf der Bildfläche und nimmt den Jungen und den verletzten Tetsuo mit. Als Kaneda seinen Wegbegleiter aus Kindertagen wiedertrifft, hat dieser damit begonnen, Kräfte zu entwickeln, welche die menschliche Vorstellungskraft sprengen und die gesamte Stadt in den Abgrund zu reißen drohen.

Keine Frage, „Akira“ trennen Welten vom quietschbunten Zeichentrick aus Kindheitstagen, mit Märchenfiguren, Gesangseinlagen und sprechenden Tieren. Katsuhiro Ôtomos Bild der Zukunft ist nicht minder überwältigend wie der Blick auf die endlose Skyline-Landschaft in Ridley Scotts stilbildendem „Blade Runner“. Und widmet sich ebenso den extremen Gegensätzen einer kollabierenden Gesellschaft, wie sie bereits Fritz Lang in „Metropolis“ definierte. Dies ist ein ganz und gar erwachsener Film, der beeindruckenderweise, auch nach über fünfundzwanzig Jahren, nichts von seiner Magie eingebüßt hat. In jederlei Hinsicht hat Ôtomo ein übergroßes Referenzwerk vorgelegt, ob in der detailreichen, dynamischen Animation, diesem unvergesslichen Soundtrack, bei dem Choral, Trommelkunst und balinesische Ur-Rhythmen aufeinanderprallen. „Akira“ ist ein formvollendetes Erlebnis, bei dem kaum qualitative Kompromisse eingegangen wurden. So begnügten sich Katsuhiro Ôtomo und sein Animatorenteam nicht damit, die Aktion im Hintergrund einzufrieren oder nur Teile des Gesichts zu bewegen. Dieser kostengünstige Standard wurde anderen überlassen, „Akira“ schien keine Furcht vor der Domäne des Realfilms zu kennen. Und muss sie bis heute nicht haben, denn bisher ist es keinem Titel gelungen, „Akira“ seinen eigenen Rang abzulaufen.

Umso schwermütiger stimmte bisher der Umstand, dass gerade deutsche Zuschauer Ôtomos Überwerk phasenweise schmerzlich entbehren mussten. Bahnbrechend die damalige Aufführung in unseren Kinos, aber dann kam immer wieder dieses lange Warten. Zu VHS- und selbst DVD-Hochzeiten blieb „Akira“ out of print. Eine Situation, die sich dieser Tage dank einer lohnenswerten Neuauflage von Universum Film ändert.

Umsetzung für das Heimkino

Wie es einem Kultfilm mit Sonderstatus würdig ist, schickt die Neuveröffentlichung von „Akira“ bild- und soundtechnisch endlich unsere alten Videokassetten in die wohlverdiente Rente. Ob in 1080p-Auflösung oder in Standard Definition im 16:9-Format: Blu-ray und DVD präsentieren jeweils ein hervorragendes Bild, das keine Rückschlüsse aufs Alter des Films zulässt. Besonders Fans der ersten Stunde dürfen sich darüber freuen, gleich zwischen zwei Synchronfassungen wählen zu dürfen. Jede Silberscheibe vereint sowohl die Sprachausgabe der Kinoversion als auch die Nachvertonung aus dem Jahr 2005. In beiden Fällen ein qualitativ hochwertiger Genuss, der sich dennoch ein ums andere Mal im Wortlaut und Sinn unterscheidet. Einen besonderen Blick auf den Entstehungsprozess bietet das knapp einstündige Making-of des Mehrkanal-Mix, indem vor allem Komponist Shôji Yamashiro auf die Einflüsse des außergewöhnlichen Klangs und der künstlerischen Philsophie hinter „Akira“ eingeht.

Umso erfreulicher, wie sich diese Abmischung in DTS-HD 5.1 oder auf DVD im Dolby-Digital-5.1-Gewand entfaltet und die optische Wucht komplettiert.Vom Meister Katsuhiro Ôtomo begleitet wird die Animation Library, bei der mehrere Szenenausschnitte und Animationsdetails mittels Quick-Animation-Recorder-Aufnahmen beleuchtet werden. Bewegte Rohaufnahmen, die umso mehr verdeutlichen, welcher Produktionsaufwand sich hinter diesem Film verbarg, vor allem in Zeiten der non-digitalen Animation. Die Art Works Gallery präsentiert weitere Impressionen aus dem zukünftigen Moloch Neo-Tokio. Alle versammelten Kino- und TV-Trailer runden das Bonuspaket zusätzlich ab. Für Sammlerfreunde beinhaltet die limitierte Special Edition im Steelbook obendrauf ein 32-seitiges Booklet als haptisches Schmankerl.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Yannic
2. November 2014
15:52 Uhr

Top Kritik. ♥ Sowohl der Anime als auch der Manga sind einfach nur großartig.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

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Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

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Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

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Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.