Alles schiebt sich leicht und gemächlich dahin; ein ziehender, endloser Brocken, der einer ewigen Unvergänglichkeit gleicht. Das Leben lehrt Vergessen und Unterdrückung, zelebriert Arbeit im Sinne puren Geldverdienens. Kein Wagnis, keine Spannung legt sich in die zu fristende Zeit – fortan Tag für Tag, Morgen, Mittag, Abend und Sonnenuntergang. Pure Langeweile bestimmt den Ablauf; ein Ritus, der bis zum Tod weiter seine Streifen zieht. Gleichzeitig verschwinden Wünsche, Sehnsüchte, tiefste emotionale Bräuche aus dem Kopf. Der amerikanische Traum ward vergessen. Ein Leben nur des Lebens wegen. Eine Fassade hüllt uns ein. Ein Gartenzaun. Die untrügliche Röte, das zarte Blassrosa der Mme Ferdinand Jamin. Das erfolgsverwöhnte Spiegelbild eines Immobilienmaklers. Das Leben der Anderen.

Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann. Und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen.

Ricky Fitts

Sehen Sie genauer hin. Sie sehen Lester Burnham (Kevin Spacey), den 42-jährigen Mann, eine trostlos eingesperrte Gestalt im Schatten einer verbleichenden Ehe. Sie sehen Carolyn Burnham (Annette Bening) in der vollkommenen Gartenidylle. Sie sehen Jane (Thora Birch), das kleine, pubertierende Mädchen. Sie sehen eine Familie vor verschlossenen Toren, einen Vorort der inneren Hölle. Beinahe symbolisch wütet in Lester die Midlife-Crisis und er badet im Desinteresse aller Menschen seines Umkreises. Sein baldiger Tod ist im Hier und Jetzt irrelevant; eine kleine Bemerkung am Rande, ein Hinweis, den keiner vernehmen möchte – der im Raum steht. In der Routine kommt unerwartet ein Feuer zum Brennen. Etwas Anzügliches bahnt sich an, in Form von Janes Schulfreundin: der Lolita Angela (Mena Suvari). Plötzlich tritt alles Verschleierte und eine alte Jugendsehnsucht aus Lester hervor, eine Explosion in Geist und Körper. Er kündigt den langjährigen Job in der Werbebranche, trifft im neuen Nachbarssohn Ricky Fitts (Wes Bentley) einen heimeligen Drogenkurier, wirft sich auf die Trainingsbank, wendet Burger in der Frittenbude. So banal es wirken mag: Lester Burnham schafft sich in der Aufgabe alles Materialistischen den Platz für sein eigenes schönes Leben.

Sam Mendes’ „American Beauty“ wirkt zunächst famos in seiner Gelassenheit, den erheiterten, bissigen Kommentaren, dem übertriebenen gefängnisartigen Komplex, in dem Lester alltäglich scheitert. Die Burnham’sche Familie ist, möchte man es metaphorisch darstellen, verlassen von Gott und der Welt. Der weiße Anstrich des Gartenzauns prallt auf die alte, fade Ausstattung im Inneren, direkt hinein in das Seelenleben aller Protagonisten. Mendes kennt in seinem Debüt die Tricks, den Kniff Spannung zu erzeugen, nur, um in bloßer Manie seine Charaktere eigentlich lächerlich hinzustellen. Ihm gelingt das Kunststück, uns zwar ein Lachen einzuflößen, dem jedoch eine Traurigkeit direkt nachfolgen zu lassen. Amüsiert lenkt er durch die ersten Minuten mit sorgsamer Präzision, bei der nichts verwundert oder unnötig im Raum steht. Währenddessen wandert Bildgestalter Conrad L. Hall über diese losgelöste, armselige Vorstadt – eigentlich weiß sie gar nicht wohin –, nur geleitet von einer Stimme findet sie den Weg weiter hinein in Lügen und Schein. Der Blick fällt auf Lester, ein Synonym von verzweifelter Hilflosigkeit, dem klaren Bild eines Verlorenen in der starrköpfigen, erfolgsgeilen Gesellschaft. Sinnentleert onaniert er in der Dusche, kommentiert trocken den „Höhepunkt“ seines Tages. Kevin Spaceys Spiel ist voll zerreißender Tragik von einem Mann, der seine Berufung in wiederkehrenden verlorenen Möglichkeiten verlebt. Wie konnte er Familie und Beruf so sehr verabscheuen? Im Gegensatz zum ach so „normalen“ Schein begehrt ein alter Mann diese Lolita: blonder Halbengel, perfektionierte Schönheit. Sein bisheriger Zyklus bricht aus.

Parodistisch gibt sich Mendes dem amerikanischen Traum hin, legt feinfühlig die stereotype Familie auf den Tisch und knallt Spießbürger mit ihrem stümperhaften Dasein zu. Es könnte ihm der Vorwurf gemacht werden, er ergötze sich als Brite an den amerikanischen Tugenden, zerschmettert sie ohne die wahre, die perfekte Lösung aufzublättern. Mendes stiert förmlich in seine Charaktere und erschafft in seiner ruhigen Verfahrensweise und dem simplen Handlungskonstrukt eine wesentlich größere Leistung als erklärendes Gefasel verbreiten könnte. Er versucht diese Menschen, diese zur Schau gestellten Wesen, zu ergründen und ihnen, abseits von Floskeln und gutmütigen Hilfestellungen, den Weg zu zeigen. Zumindest Lester Burnham findet den Absolutismus gen Ende, Ricky Fitts besitzt ihn von Anfang an. Doch welches ist der größere Verlust? Ein nicht erreichter oder ein nie angestrebter, ein von vornherein als zu hoch verzeichneter, Traum?

Alles sträubt sich gegen den Wandel, gegen ein Aufbegehren aus bekannten Gesetzen. Lester springt aus dem geschriebenen Konzept, bricht aus, sucht den Kick. Er träumt von ihm, doch erkennt schnell, wie sehr nur Handlungen die letzten Wünsche erfüllen können. Aus intelligenten Augen sowie wohl dosierter Stimme teilt Kevin Spacey uns das Bild Lesters mit, ein verschwommenes aus alten Tagen. Sogar im Schweigen ist sein Schauspiel, so wenig es in Wirklichkeit der Wortbedeutung eines auch ist, ungreifbar. Fabulös verwandelt er den gierigen Lester zu einem Menschen mit greifbaren Sehnsüchten, zu keinem übertriebenen Ehebrecher oder jubilierenden Macho. Hinzu gliedert Thomas Newman musikalisch ausbrechende Sequenzen und untermalt in fließenden Kompositionen Leid und Trieb. Oftmals ist es ein Greifen, ein verspieltes Aufbegehren, ein Wegweiser für seine Hauptcharaktere. Newman wird zum Leiter in seiner trostlosen Umgebung und reichert jede einzelne Sekunde mit seinen Kompositionen an. Es fügt sich jede Kleinigkeit vor dem Hintergrund aller Beteiligten zusammen. Mendes’ Charaktere sind hilfsbedürftig und benötigen trotz allem nicht die Hilfe ihrer Mitmenschen, sondern das Bewusstsein ihrer selbst.

Mitunter sind es mehr als nur die fallenden Rosen, die Blütenblätter, die sinken, im Winde fliegen oder in der Luft aufsteigen. Eine einfache Plastiktüte windet und dreht sich, ohne Ziel ist sie der Natur ausgesetzt. Sie wächst zu einem der nachdenklichsten, der zu Schönheit gereiften Momente in der jüngsten Filmgeschichte an. Ein bannender Augenblick.
Strotzten Mendes’ Charaktere vor sinnentleerten Tätigkeiten, vor dem Treiben im öden Leben, fliegt diese Tüte, ein einfaches, materielles Stück plastischer, nicht realer Natur, im Wind. Es ist frei, es fließt, zwar bewegt von einer höheren Macht, aber kein Weg stellt sich für es dagegen – es fliegt nur. Irgendwann versteht auch Lester diesen einfachen Weg im Leben und trifft seine Entscheidungen entgegen gut gemeinter Ratschläge; strömt, ahmt den Regen nach. Seine Ziele, jene Glieder des amerikanischen Lebensstils, verstehen einander nicht. Bis er wahrhaftig begreift, welche Konsequenzen er ziehen muss, vergeht seine Zeit. Zeit, bis der zählbare Rahmen fast in Irrelevanz übergreift.

Manchmal habe ich das Gefühl, all die Schönheit auf einmal zu sehen. Doch das ist einfach zu viel. Mein Herz fühlt sich dann an wie ein Ballon, der kurz davor ist zu platzen.

Lester Burnham

Schmerzlich legen sich Empfindungen ad acta; ein Schuss fällt im Regen. Der Tod, ein weiterer Aussetzer im sorgfältig geplanten Pfad, tritt gar ebenso prasselnd und hart wie der strömende Regen für Lesters Angehörige ein. Nur eines ist er nicht: schmerzlich. Nicht für Lester, der beruhigend alle Momente seines Lebens vorbeiziehen sieht. Alles Wunderbare, Erfrischende, Wertvolle streicht hinweg. Geprägt von Erinnerungen schleicht längst Vergessenes wieder in Lesters Wahrnehmung und verzieht darin den Ärger über den plötzlichen Tod. „American Beauty“ berührt mit schwereloser Leichte und zieht ohne Aufhebens seine Kreise, die nur ein Treiben in Vollkommenheit bleiben. Irgendwann wird man verstehen, verstehen, jede Schönheit im Gewöhnlichen zu suchen. Ein „dummes kleines Leben“ zu verrichten, den Kleinigkeiten anzuhaften. Irgendwann. Irgendwann strecken wir wieder mit Angst und gleichsamer Freude die Fingerkuppen nach der zarten Knospe namens Leben aus. Irgendwann. Auch, wenn es erst im Tod sein mag.

Meinungen

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