Edward Norton sagte bereits in David Finchers „Fight Club“ anno 1999: Die Welt sei portioniert; voll von portionierten Freunden, portionierter Butter, portionierten Shampoo-, Mundwasser-, Cordon-bleu-Bausätzen. Kommunikation? Irrelevant, redundant. Kommunikation sei nur noch ein Konstrukt zur Selbstbefriedigung der scheinbar einzigen verbliebenen menschlichen Urangst: der Angst vor Einsamkeit, Isolation – der Angst, allein zu leben und zu sterben. Nicht aber der Angst vor Egozentrik. Denn allein jene streckt ebenso in „Bird People“ die Flügel aus, indem Regisseurin Pascale Ferran über die Pflicht erzählt, zu arbeiten, wann und wo es nötig ist. Und über die Pflicht, sich von dieser Pflicht wie von jeder Pflicht zu lösen. Zuvorderst aber ist „Bird People“ ein Plädoyer zweier Menschen und ihrer plötzlichen Überzeugung, dass dieses Leben – ihr Leben – mehr ist. Mehr als der Moment des Sehens und mehr als der Moment des Wegsehens. Dort wird Pascale Ferrans Metapher auf die urbane Misere auch zu einem Film über die Kraft des Films. Über das gegenseitige Unverständnis und die Frage nach dem Sinn. Auch über den Sinn des Lebens? Möglich.

Im Leben des Workaholics und Geschäftsmannes Gary (Josh Charles) geht es zwar auch um die Frage nach dem Sinn – nicht mehr allerdings um die Frage nach einem Sinn der Leben um ihn herum; dem Leben seiner Ehefrau, seiner Kinder, seines Arbeitgebers. Gary ist nichts weiter als der namenlose Protagonist in „Fight Club“: Gary selbst ist portioniert. Portioniert für das Leben, seine Familie, seine Arbeit, seine Freizeit, seine Mahlzeiten, seine Zeit zu Hause, seine Zeit unterwegs. Gary ist der rote Pullover mit der Aufschrift „Stanford“, die durchsichtige Plastiktüte aus einem Duty-free-Shop des Pariser Flughafens Charles de Gaulle. Gary heißt zwar Gary, weiß aber nicht um seinen Namen. Gary ist der Weltenbummler, der in der Welt bummelt, jeden Tag woanders und jeden Tag doch nirgendwo ist. Gary ist niemand und jemand. Zeit für einen Sinn bleibt nicht, weil es keine Zeit mehr gibt – für die Zeit an sich. Als Gary beschließt, dem Trott ein Ende zu setzen, reagiert sein Umfeld, wie ein Mensch heutzutage seine Unsicherheit ausdrückt: mit dem Wort Bullshit. Gary solle alles nochmals überdenken, eine Nacht drüber schlafen, heimkehren. Sie könnten auch sagen: Deine Midlife-Crisis ist Unsinn, komm auf den Boden zurück.

Kommunikation nämlich ist Krieg, wenn sie bereits nichts mehr sagt. Auch davon erzählt Pascale Ferran. Aber mindestens ebenbürtig erzählt sie von einem Gefühl, welches wohl dem Gefühl eines Tanzes am nächsten kommt; Beinen, die einander folgen und Körpern, die einander umkreisen. Schlicht der Repetition der Schritte. „Bird People“ spricht dieses Gefühl ganz unvermittelt in einer zirkulären Ouvertüre aus, welche in fünf Minuten prägnanter über die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts philosophiert als Jason Reitman kürzlich mittels „#Zeitgeist“ in knapp zwei Stunden. Da zeigt sie Menschen in einem U-Bahn-Abteil auf dem Weg zum Flughafen, ihre Smartphones in Händen, ihre Kopfhörer um Hälse gespannt oder auf Ohren gedrückt, ihre Augen so offen wie versperrt. Das Zimmermädchen Audrey (Anaïs Demoustier) sitzt unter ihnen. Doch ihre Blicke in die Ferne fordern nicht die Leere ihrer Mitreisenden. Vielleicht wählte Ferran deswegen gerade sie als Konterpart zu Gary – weil sie auf einen Urinstinkt statt auf eine Urangst pocht: Dass wir uns auf jene Blicke besinnen sollten. Jene Blicke, die erst ins Nichts führen, aber dort, in unserer Imagination, mehr werden.

Ein Zimmermädchen fragt Audrey während eines Stromausfalls einmal, von was sie träumt. Sie antwortet, dass sie es nicht wüsste. Aber Audrey weiß viel mehr. Denn sie ist der Spatz, der den Ausbruch aus einer Gesellschaft des Nonsens nicht mehr nur träumt, sondern bereit ist, ihn zu leben. „Bird People“ ist auch mehr: eine Überraschung und ein Flüstern. Schaut nur her, will Pascale Ferran sagen, schaut her und ihr werdet sehen – wenn ihr sehen wollt. Darum geht es schließlich immerzu im Film: um das Sehen und das Gesehenwerden. Wer dazu bereit ist, spannt im kinematischen Fieber seine Flügel und … fliegt. Hinaus über Rollbahnen, Vorfeldböden, entlang von Leitlinien und Leuchtstoffröhren. Plakativ? Möglich. Aber David Bowie singt in seiner „Space Oddity“ nicht umsonst: „Now it’s time to leave the capsule if you dare.“ Film bedeutet in „Bird People“ auch, sich hinaus ins Unbekannte zu wagen, dort von wilden Sträuchern Beeren zu picken und über vorstädtische Wiesen zu sausen. Und dann an einen Ort zurückzukehren, der erst alt war und nun neu ist. Im Französischen heißt personne gleichzeitig jemand und niemand. Es ist eine Kontradiktion, wie auch „Bird People“ eine ist. Bizarr, naiv. Doch zugleich wie ein ehrlicher Händedruck: warm und zart. Ohne Hintergedanken. Ohne Antworten.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Bird People“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.