Welch Strom, welch Erlebnis, welch Albtraum. „Björk: Biophilia Live“ ist vielleicht das manischste wie erbarmungsloseste Geschwür im dokumentarischen Festivalkalender dieses Jahres – und löst neben einem abstrakten Schrecken auch die wohl organischste Verwurzelung der Musik im Film prinzipiell aus. Denn wo sich kommerzielle Künstler vielmehr nach Sicherheit sehnen, produzierte Björk Guðmundsdóttir seit jeher ein Reagenzglas der kakofonischen Krise. Der Höhepunkt dieser folgte jedoch erst im September vergangenen Jahres auf dem Abschlusskonzert ihrer zweijährigen „Biophilia“-Tournee im Alexandra Palace in London. Dort nämlich fielen alle Hüllen des modernen popkulturellen Zwangskorsetts und Björk widmete sich mit einer wie immer obskur ausartenden Inszenierung und Kostümierung (pink-orange-farbene Afroperücke, wülstig-fleischernes Zwiebelkleid, nachtblau glitzernde Leggings) dem Chaosstrudel des Lebens. Nick Fenton und Peter Strickland porträtieren in „Biophilia Live“ das Phänomen nun nochmals für jene armen Seelen, die damals kein Ticket besaßen. „Berberian Sound Studio“ wäre allerdings ein ebenso geeigneter Titel.

Dabei denkt der internationale Verleih Cinema Purgatorio die Begrenzungen dieses beinahe reinen Konzertmitschnitts weiter, indem er ihn in einer exklusiven Downloadkompilation um Louise Hoopers „When Björk Met Attenborough“ und die Reportage „Biophilia at Miraikan“ ausdehnt. Nicht nur, dass Fenton und Strickland somit weniger dem Zwang unterliegen, die audiovisuelle Diktatur Björks in explizite filmische Explorationsportionen zu spalten, sie können vielmehr fokussieren, was anderswo ausdrücklicher erklärt wird. So spielt „Biophilia Live“ mit der Erwartungshaltung des eindeutig definierten Zuschauers, welcher die Welt der Isländerin vom siebten Studioalbum bis zur App-Suite bereits im Biorhythmus intus hat. Dass da kein Platz für ein neues Publikum ist: geschenkt! Mit Gravitationsharfe und singender Teslaspule präzisiert Björk neben weiteren originären Instrumenten die Komposition des Experiments – inklusive ihrer selbst und ohne ihren früheren Lebensgefährten Matthew Barney, der sich insbesondere an sexuellen Symbolen in Vaseline labte (siehe „Drawing Restraint 9“). Gleich der für jedes Lied autarken Apps schöpft der Film aus der schamanistischen Melodie, die hier im obligatorischen Gibberisch Naturphänomene experimentell visualisiert.

Im Sog der Musik greifen Viren an, bricht der isländische Vulkan Eyjafjallajökull aus, tönt Donner, raffen Mondzyklen, Pilze und ein Oktopus dahin. Das lässt schaudern – fordert aber auch die Rückkehr zu einer Wahrnehmung, welche zuvorderst nicht den Künstler, sondern sein Publikum bedingt.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Yannic
30. November 2014
11:52 Uhr

Bei dem Bild hier bekomme ich schon Angst.

Stefanie
30. November 2014
12:09 Uhr

Eher vor ihr, ihrer Perücke, dem ganzen Aufzug oder der Gravitationsharfe? (Mehrere Antworten möglich.)

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