Attribute einer Aussätzigen: zerschlissene Kleider, ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht, versteckt unter einem Vorhang an dichten, aneinanderklebenden Haaren. Die Persönlichkeit dieses Mädchens, sie heißt Carrie und ist bestimmt nicht des Satans jüngste Tochter, kann lediglich rudimentär erahnt werden, schließlich ist das Individuelle, das Soziale, das Sexuelle, schlicht: das Unterdrückte und Totalitäre, das Ergebnis einer lang währenden autokratischen Drangsalierung. Glaubensfanatismus, Eifer, Angst und befreiende Raserei: Stephen King beschrieb in seinem allerersten Roman „Carrie“ eine adoleszente Verliererparabel, die einige feministische Grundbausteine starker, weiblicher Protagonisten in seinen späteren Geschichten vorwegnahm. Ganz der Postmoderne, dem Zitat, der Collage zugeordnet, besteht Kings Roman aus einer für ihn beileibe nicht untypischen fragmentarischen Struktur, die mit Zeitungsausschnitten hantiert, um das Geschehen aus mehreren Perspektiven zu schildern.
Auf den narrativen Einfallsreichtum Kings verzichtet Brian De Palmas Adaption. Ellipsenhaft entschlackt sie die Vorlage und deren für die Ereignisse von essenzieller Bedeutung gekennzeichneten Nebenfiguren, während sich ein Zoom in der ersten Szene auf Carrie White (Sissy Spacek spielt sie fulminant passiv) konzentriert. Die Intention ist sofort verständlich: Bei De Palma spielt Carrie unweigerlich die Hauptrolle. Carrie, an der sich De Palma nicht sattsehen kann, an ihrer ersten Menstruation unter der Dusche, den Beinen, den Körpervertiefungen und -ausbuchtungen, den Brüsten, den beispiellosen Demütigungen aller Art, der Verletzlichkeit, der aufgestauten Hassliebe. Die Kamera gleitet über Carries Körper, grazil, tastend, das längst Vergessene erforschend, es sind gleichermaßen verführerische, schmuddelige wie künstlerische, sinnliche Momente einer neuen, unverfälschten Nacktheit des Horrorkinos der 70er Jahre. Fleisch und Blut – in De Palmas Film gehen sie eine untrennbare Symbiose ein.
Überhaupt die 70er. Als Kind jenes Jahrzehnts überzeugt „Carrie“ mit aufgeplustertem Retrocharme. Der bunt zusammengestellte Soundtrack (ein De-Palma-Bekannter: Pino Donaggio) changiert zwischen ausgestellter Dudelei und jenem seifigen Unernst, der auch De Palmas „Scarface“-Remake überschüttet. Die Shorts im Sportunterricht sind kurz, die Schenkel der Lehrerin prall, fetziges Discolicht und hochgesteckte Haare inmitten von roten, grünen, blauen Farbornamenten. De Palmas filmästhetischer Manierismus übersetzt den dämonischen Naturalismus des Romans in eine experimentelle Selbstfindungsphase, die visuell untermauert wird. Split Screens, subjektive Aufnahmen, Plansequenzen und abenteuerliche Kamerawinkel sind nur einige herausgegriffene Elemente, mit denen der Regisseur ausschließlich in Bildern Stimmungen erzeugt. Stellevertretend dazu kommentiert in einer besonders grobschlächtigen Szene einsetzendes Gewitter ein Gespräch von Mutter (entfesselt und doch geerdet: Piper Laurie) und Tochter (Spacek), das sich zu Verachtung und Wahnsinn hochschaukelt.
Das Herzstück der Geschichte – der sowohl literarisch als auch filmisch ausgiebig zelebrierte, apokalyptische Abschiedsball – versteht De Palma innerhalb einer minutiös durchgeplanten, bedrohlich im Hintergrund gärenden Suspense-Sequenz als Kulmination dieses symbolischen Zeichensystems. Wenn die Stimmung von Heiterkeit über Schock zu kosmischer Besinnungslosigkeit kippt, läuft die Bildsprache des Films, natürlich auch etwas selbstgefällig, Amok. Einen der schönsten, romantischsten, ja intimsten Augenblicke bietet der Film allerdings vor dem infernalischen Spektakel, wenn er zum Tanz bittet. Wenn sich Carrie, das scheue Reh, und Tommy (William Katt), der blonde Strubbelkopf, im Takt der sich drehenden Kamerabewegung annähern. Es ist dieser Augenblick, der das Vergangene auslöscht; wie paralysiert sind die Wunden geheilt, die Zukunft möglich, die Hölle überwunden. Stattdessen strahlen und erstrahlen die Lichter, so wie Carries Gesicht. Ein Atemzug an von den fatalen Geschehnissen isolierter Glückseligkeit, die nur jetzt existiert.
Die Blutdusche, die Badewanne mit blutigem Wasser, die mittels Telekinese in Jesus-Pose erstochene Mutter, der aus der Erde hinausschnellende Arm (gleichzeitig die unlogischste Szene, sinnbildlich für den Widerspruch De Palmas, einen zuvor respektvoll porträtierten Menschen zum Monster des Schockeffekts wegen zurück zu verwandeln) – das ist Horror-Ikonografie. Obwohl De Palma derartige Szenen ambitioniert auskostet und entsprechend wirkmächtig filmt (ein expressiver Giallo-Höhepunkt in Großaufnahme: die Zunge, die erwartungsvoll über die Lippen streicht), erdrücken sie in ihrem ohrenbetäubenden Lärm das Leise, Geheimnisvolle, schlicht das paranormal Faszinierende der Vorlage.
Letzteres stagniert in trivialen Bibliotheksszenen und ist vor allem Mittel zum Zweck, wohingegen in erster Linie die Beweggründe Sues (Amy Irving), Carrie aus ihrer schüchternen Lethargie (aus Mitleid? Mitgefühl?) ein Stück weit zu befreien, subtil gegeben sein mögen, aber nicht vom Drehbuch ausreichend grundiert werden. Die misogynen Untertöne indes – omnipräsente Ohrfeigen, ein Blowjob als Erpressermittel für die Umsetzung des Racheplans (!) – gehören mittlerweile zum De-Palma-Repertoire, lancieren jedoch längst nicht derart penetrant den wollüstigen Blick eines gierigen Altherren auf Sexentzug, weil es hier vornehmlich Frauen trifft, die Frauen eine scheppern. Brian De Palmas verqueeres Verständnis des Ursprungsstoffes hat eben auch etwas Vergnügliches. Und manchmal etwas trashig-Gestriges.
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