Der Tod tritt durch Millionen individueller Albträume. Ein Mann begegnet ihm vielleicht zwischen Schweiß, Sex und Bullen; zwischen einem Stoß, einem Keuchen und einem Husten. Vielleicht hält bei ihm zuvor Gnade Einzug, wenn sich die Realität mit unerbittlicher Schwere niederlässt und er den finsteren Traum als wache Realität entlarvt. Vielleicht mit der Zeit; vielleicht für manche. Der Albtraum wickelt sich lose aus Jean-Marc Vallées „Dallas Buyers Club“. Gleichsam beginnt er in einem düsteren, ungenutzten Stall nahe der vordergründigen Attraktion – den Bullen und von ihnen manchmal berittenen, manchmal abgeworfenen Männern mit Stetson auf dem Kopf und der Ahnung, ihnen wohne allein dadurch eine Maskulinität inne. In diesem Stall tobt jedoch ein anderer Kampf zwischen einem Mann und zwei Frauen: Sex – eingekeilt zwischen den Holzplanken der Anlage. Es wirkt wie eine Übung, die alsbald abgeschreckt wird. Ein desolater, schemenhafter Trott.

Der zweifelhafte Cowboy mit der höchst aktiven Libido hört auf den Namen Ron Woodroof (Matthew McConaughey). Sein Blick wandert durch die Planken hinein in den Ring, wo ein Mann ohnmächtig auf dem Boden schlummert, nachdem er den Zorn des Bullen spürte. Schließlich stapft ein Clown in seinen Fokus, gleich einer absonderlich grellen Beschwörung des Sensenmannes. Und aller Ton reduziert sich rasch zu einem höllischen Klingeln. Später streckt Woodroof diese Mahnung mehrmals nieder, als kollabiere plötzliche jede Energiezufuhr. Dabei verkörpert Ron Woodroof die einzigartige Wut eines jeden Amerikaners, dessen Eigentum betreten, verletzt und geschändet wurde. Wir riechen förmlich seine Ausdünstungen, wenn er die Finger zu einer Faust ballt, nach einer Waffe oder einer Flasche billigem Fusel greift. Ein fremder Virus befällt ihn, seine Freunde wenden sich gegen ihn, bezeichnen ihn als Schwuchtel, lehren ihn, wie sich ein Aussätziger in den Wohnwagen-Siedlungen der Hitzebäder Amerikas fühlt. Der Mensch als Rudeltier ist nur bedingt eine Hilfe in „Dallas Buyers Club“. Denn selbst im Krankenhaus heißt ein Todesurteil: Ruhe statt Tobsucht; ganz in Vorbereitung auf das Kommende – und das kommt ziemlich bestimmt und ziemlich bald. Sie geben ihm dreißig Tage, er ihnen den Mittelfinger.

Dieser raue, homophobe Fanatiker steuert mit dem homosexuellen, transvestitischen Prostituierten Rayon (Jared Leto) den „Dallas Buyers Club“, während das Wissen um die Epidemie AIDS noch im Anfangsstadium und eine effektive Behandlung in den Kinderschuhen steckte. Ihre Mission: Ein Heilmittel finden. Oder eher: Ein Leben verlängern, welches laut damaligem Wissen nicht wert war, verlängert zu werden. Also fordern sie die FDA (Food and Drug Administration), die DEA (Drug Enforement Administration), den IRS (Internal Revenue Service) und das etablierte medizinische System heraus. Goliath feiert jedoch einen Pyrrhussieg, die zwei Davids sterben, das Gesetz gibt ihnen recht, doch kann ihnen kein Recht geben. So gesehen formt Vallée eine Fabel über amoralische Ausgestoßene, welche im Angesicht des puren Bösen ihr eigenes durchaus solides Gespür für das moralisch Gute entdecken. Aber natürlich illustriert es zugleich die erbitterte Gier des amerikanischen Unternehmergeistes. Denn wie der alkoholsüchtige, hypersexuelle Elektriker Ron Woodroof ohne formale Ausbildung und noch weniger Anstand ein beinahe legaler, internationaler Geschäftsführer einer Kurklinik für entrechtete Homosexuelle wird – dass mutet schon nahezu hollywoodesk an.

Dabei fokussieren die Drehbuchautoren Craig Borten und Melisa Wallack fortwährend die Klinge des Sensenmannes inmitten von Klassenkonstrukten, Sexualität und der unerträglichen Überreichweite der Regierung, obwohl kaum die Zügellosigkeit von Woodroofs Aufstieg als Aufhänger dienen sollte. Tatsächlich fasziniert „Dallas Buyers Club“ gerade dann, wenn er von Woodroofs Fähigkeit erzählt, Lebensstile und Verbündete zu adoptieren, indem er seine Laster ersetzt, sich plötzlich gesund ernährt, in Bibliotheken recherchiert und mit Geschäftsleuten unterschiedlichster sexueller Orientierung und Couleur debattiert. Doch gleichsam hätte Vallée eine Erzählung über das zeitgemäße Amerika aufspannen können; eine Geschichte über jene Klasse aufstrebender Unternehmer, welche sich mit etablierten Regierungsstrukturen und Interessen im privaten Sektor verzahnen. „Dallas Buyers Club“ hätte ein Licht werfen können auf die Ambivalenz des Erfolgs. Was wäre, hätte Woodroof sich durchgesetzt: Wäre er als Held gefeiert worden? Oder als etwas vollkommen anderes? In all seinen Reisen nach Japan, nach Mexiko, irgend- und nirgendwohin folgte er einer expliziten Strategie, die leider niemals als filmisches Motiv begriffen wird.

So spürt das wundervoll interpretierte, physische Spiel Matthew McConaugheys als Ron Woodroof eher einem exotischen Streben nach, statt dem aufrichtigen Porträt eines unterklassigen Überlebenden. Rayons Kampf dagegen wirkt real; wie er Drogen im Überfluss konsumiert, wie seine Familie beschämt auf ihn niederblickt, wie er sich kostümiert und dennoch er selbst bleibt. Jared Leto offenbart ihn sanft, er ebnet Gravitas und zeugt Empathie, wenn Vallée diese indeterminiert lässt. Doch „Dallas Buyers Club“ missversteht Ron Woodroof als guten Menschen, obwohl er ein eigentlich hässlich zielstrebiger, amerikanischer Individualist war, dem eine Pistole an die Schläfen gesetzt wurde. Ein Eroberer und ein Künstler; ein Arschloch und ein Charmeur. Im Leben und im Tod. Sein Schaffen kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden – und mit all seinen Schwächen gilt dies ebenso für das Schaffen des Jean-Marc Vallée und für seinen rückhaltlosen Eifer, mittels Fiktion die Realität einer neuen Generation zugänglich zu machen. Manche Albträume fordern den Menschen. Alle Albträume fordern Mut.

Meinungen

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