Aus hiesigen Landen kommt manch unterschätzter Veteran nur selten zu Ehren. Deshalb widmen wir uns dem Werk von Hans W. Geißendörfer in einer Retrospektive voller Filmschätze. Einer davon heißt „Der Fall Lena Christ“ und wurde uns von der Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Als der neue deutsche Autorenfilm Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zu blühen begann, waren die meisten jungen Talente zwangsläufig auf experimentellen Pfaden unterwegs. Dieses Gegensteuern war nötig, um die alten Strukturen und deren Nachwirkungen aufzumischen und Kritik an einer Generation von Kriegsverbrechern zu üben. So verwundert es wenig, dass Hans W. Geißendörfers Spielfilmdebüt ebensolche Qualitäten besitzt und zudem stets wiederkehrende Grundsätze seines Werks festlegt. „Der Fall Lena Christ“ basiert auf der wahren Lebensgeschichte der im Titel benannten bayerischen Schriftstellerin um den Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr Werdegang ist in jenen ungewissen Tagen von mütterlichem Missbrauch, der religiösen Verurteilung im Dunstkreis der Provinz und dessen giftigen Gerüchten gezeichnet. Hieran ist schon die Spannung zu patriarchalischen Strukturen zu erkennen, wie sie Geißendörfer im Laufe der Jahre nicht erst ab „Sternsteinhof“ (1976) bis zu „Schneeland“ (2005) und darüber hinaus examinieren wird.

In diesem Fall entsagt die Mutter (Edith Volkmann) ihrer Tochter Lena (Heidi Stroh) brachial das Glück der Nächstenliebe, zwingt sie zur Schwerstarbeit in der elterlichen Gaststätte und verbreitet besonders verbalen psychischen Terror, der mit Abscheu auf die Existenz des eigenen Kindes herabblickt. Lena hingegen kann damit schwer umgehen oder überhaupt Gegenwehr leisten – ihre Introvertiertheit lässt dies nicht zu. So sehr der Film hier um Mitleid gegenüber dem Opfer bitten könnte, so wenig geht er letztlich auf jene Melodramatik ein. Stattdessen passt er sich dem brüchigen Geist Lenas kompromisslos an, behilft sich per Voice-over fragmentarisch ihrer Werke (sowie der ihres letzten Mannes Peter Benedix) und bricht sein Narrativ in einem Anachronismus auf, der fesselnd tief reichende psychologische Schäden vermittelt. Der Schmerz greift aus allen Zeiten immer wieder ineinander, je öfter sich die Mechanismen von Missbrauch und Vernachlässigung von oben herab wiederholen.

In meist statischem Schwarz-Weiß bewegt sich zwar vieles vom Leben um Lena herum, aber nicht mit ihr. In dieser Gefängniszelle der sozialen Umwelt stört sich beinahe jeder an Lenas Präsenz und kritisiert, ohne an erster Stelle Empathie walten zu lassen. Im Umkehrschluss wird es meistens kalt und still im biederen Zeitkolorit, hinter dessen privaten Wänden die heimische Gewalt ihre Wunden von Anstand und Tradition in die unschuldigen Körper schlägt. Was sich später auch in Michael Hanekes „Das weiße Band“ findet, steigert sich aber zeitgleich noch in ein individuelles Delirium, bei dem Plansequenzen der Tristesse eine audiovisuelle Passion heraufbeschwören. Es werden geradezu übersinnliche Visionen des Schmerzes erdacht, anhand derer die Rolle der Mutter unabdingbar wird und mit Lenas Augen als einzig erhältliche Form der Liebe idealisiert und gefürchtet wird. Die Orgeln, die dazu spielen, geben sich entsprechend hymnisch und befremdlich, teilweise sogar in zweispuriger (Dis-)Harmonie.

Erst als die wahre und aufrichtige Liebe Lenas Blicke lenkt, scheint eine Entlastung möglich. Doch deren Scheitern ist unvermeidlich, da auch der Film in seiner elliptischen Seelenanalyse von Anfang an klar macht, dass Lena ihr Leben in einer Gewissheit beendet, die jedes vergangene Übel als stets einstechende Gegenwart wahrnimmt. Hierin zeigt sich ein Gleichnis für den Wesenszustand der abermals kontemporären Gesellschaft in Deutschland zur Entstehungszeit des Films, aber auch die effektive Veranschaulichung eines inneren Leidens, wie es heute längst nicht aus der Welt getilgt ist. Geißendörfer arbeitet in seinem Debüt bereits mit entschiedenen wie abstrakten Mitteln auf diesen Punkt hin; setzt sowohl auf kurz gehaltene Einzelmomente, die in ihren Gesten reichlich von Ursprung und Wirkung der lang etablierten Interaktion erzählen als auch auf bewusste Qualen längeren Schweigens, in denen der menschliche Kontakt auch räumlich immer weiter voneinander getrennt wird.

Es ballt sich eine Verzweiflung zusammen, die in den strengen, kalten Gesichtern der Darsteller einen Ausdruck findet, hinter deren Pupillen schon alles in Flammen zu stehen scheint. Die Tragik daran, dass sich keiner der Charaktere ausdrücken kann und der Katharsis entsagt, findet höchstens eine Poesie im Sterben, sprich einer Liebe außerhalb des irdischen Daseins – still zwischen den Blättern des Herbstes und mit schwarzem Gewand in der erdrückenden Zelle des Konservativismus einschlafend. Ein treffendes Stück Filmgeschichte, das sich hier per Archaik als Seelenabbild beweist und ungewohnt, doch beachtlich greifbar überzeugt. Zeit also, dass sich hiesige Verleihe darum kümmern, dieses Zeitdokument zu erhalten und nochmals ins Gespräch bringen.

Meinungen

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