Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei […]

In „Die fröhliche Wissenschaft“ widmete Friedrich Nietzsche 1882 diese Zeilen mit dem Titel „Sils Maria“ dem gleichnamigen Bergdorf in der Schweiz. Er selbst verbrachte sieben Sommer in dem idyllischen Ort am Silsersee, genoss die Ruhe und die Natur, grübelte in der Einsamkeit und fand dort Inspirationen zu seinen größten Werken. Er war jedoch nicht der Einzige. Auch Herrmann Hesse war fasziniert von dieser Region und reiste mehrmals dorthin. Und jetzt nennt der französische Regisseur Olivier Assayas seinen neuen Film „Die Wolken von Sils Maria“. Wie sich die dichten Wolken von Sils Maria durch die düsteren Schluchten der Schweizer Alpen schlängeln, ist zugleich bedrohende Naturgewalt und atemberaubende Sensation. Hier gibt es nichts fernab aller Zivilisation. Die Menschen leben in völliger Abgeschiedenheit. Zeit spielt keine Rolle. Ein Ziel gibt es nicht, führen schließlich alle Wege am Ende hoffentlich wieder ins Tal zurück – egal wie lange der Weg dauern mag. Assayas bleibt in „Die Wolken von Sils Maria“, der dieses Jahr bereits in Cannes seine internationale Premiere feierte, jenen Motiven treu: Einsamkeit, Sehnsucht, Natur.

Für die beiden Protagonistinnen Maria und Valentine wird das abgelegene Bergdorf zu ihrer persönlichen Reise, ihrem gemeinsamen Rückzugsort. Er ist der Gegenpol zu ihrem knallharten Alltag im schillernden Showbiz. Alles scheint wie ein großer Zufall: Maria soll einen Preis für ihren alten Freund und Gönner Wilhelm Melchior entgegennehmen. Der Autor und Regisseur hat ihr einst – vor vielen Jahren – mit seinem Stück und späterem Film „Maloja Snake“ zum internationalen Durchbruch verholfen. Auf dem Weg zur Verleihung stirbt er. Plötzlich kommt alles anders als geplant. Kristen Stewart spielt die junge, burschikose Assistentin Val, Juliette Binoche die alternde Filmdiva Maria Enders. Val scheint stets alles unter Kontrolle zu haben: ihre zwei Smartphones, das MacBook, den gemeinen Gossip und vor allem ihre Chefin Maria. Diese ist um die 40 und hat den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten. Nun soll sie aber in einem Remake ihres Erfolgsdebüts mitspielen. Während sie in der Rolle der jungen Sigrid mit nur 18 Jahren ihren ersten großen Erfolg feierte, soll sie nun in London deren Gegenspielerin übernehmen, die arrivierte Helena, die sich von Sigrid verführen und in den Suizid treiben lässt.

„Die Wolken von Sils Maria“ ist ein stiller, extrem komplexer Film, der auf mehreren Ebenen ein und dasselbe Thema verarbeitet: das paradoxe Zusammenspiel von Realität und Fiktion. Spielt ein Schauspieler nur eine Rolle? Entwickelt irgendwann die Rolle ein Eigenleben und thront so über dem Schauspieler? Kristen Stewart darf deshalb selbstironisch und selbstkritisch einen Monolog über die Daseinsberechtigung von Hollywood-Blockbustern halten. Sie seien tiefgründig, oft unterschätzt, würden in die innere Psyche der jungen Menschen blicken und reflektieren; vielmehr als es all jene elaborierten Arthouse-Dramen könnten. Damit greift sie Maria Enders an. Oder doch Juliette Binoche? Das Drama verhandelt einen Generationenkonflikt, sowohl auf wie auch jenseits der Bühne.

Welten treffen aufeinander: Hochkultur gegen Mainstream. YouTube, Google und Co. Der Selbstdarstellungswahn der Digital natives. Allen voran Chloë Grace Moretz als talentierte Nachwuchsschauspielerin Jo-Ann Ellis. Bekannt aus oberflächlichen Sci-Fi-Blockbustern. Verehrt von den gleichaltrigen Mädchen, die alle unbedingt so sein wollen wie sie. Schön und erfolgreich. Sie soll die Rolle der jungen Sigrid übernehmen, in der Neuinszenierung von „Maloja Snake“. Im Theater? Eine ernst zu nehmende Rolle in einem ernst zu nehmenden Drama? Keine Chance. So sieht das zumindest Maria, die sich von dem jungen Talent Jo-Ann überrumpelt fühlt. Maria fühlt sich alt, verbraucht – schlichtweg überflüssig. Sie soll sich auf der Bühne selbst töten. Ihr metaphorischer Selbstmord. Das ist für sie zu viel. Immer mehr fühlt sie sich in die Ecke gedrängt, reflektiert über ihr Leben und tauscht sich in endlosen Gesprächen mit ihrer widerspenstigen Assistentin Val aus.

Assayas verschränkt die Erzählstränge in „Die Wolken von Sils Maria“ immer mehr miteinander. Spricht hier gerade Maria als sie selbst oder ist sie gerade Helena? Liest Val während der Probenphase nur die Worte Sigrids oder drückt sie dadurch ihre eigenen Gedanken aus? Das eindrucksvolle Bergpanorama rahmt diese Dynamik zwischen den gedoppelten Figuren ein, gibt den Gesprächen Raum und Zeit für Reflexionen und Fantasien, und bildet doch einen starken Kontrast zur Welt der Filmindustrie. Erst hier – fernab von ihrem stressigen Leben – können Maria und Val innehalten und ihr Innenleben bloß legen. Die eindringlichen Wolken von Sils Maria, begleitet von Händels Klängen. Mit all ihrer Wucht lässt dieses Naturspektakel all diese Nichtigkeiten, diese endlosen Diskussionen, in den Hintergrund rücken. Hier sitzen sie also – Maria und Val – auf einem Berggipfel und warten stillschweigend auf diese berüchtigten Wolken. Sie sind sich nah und doch so fremd, wie Mutter und Tochter, wie zwei Verliebte.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Die Wolken von Sils Maria“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Bisherige Meinungen

Yannic
13. Dezember 2014
01:37 Uhr

Binoche, Stewart und Moretz in einem Film. Das hält man(n) doch nicht aus. *schwitz*

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.