Zwei Männer lernen, neu zu sehen. Es ist der Amazonas, der ihre Blicke öffnet – und es sind ihre Blicke, die uns öffnen. Ciro Guerra stößt uns auf diese Männer und ihre Blicke in „Der Schamane und die Schlange“, mit einer imponierenden Archaik, die es heutzutage nicht mehr gibt, weil viele Regisseure nicht mehr glauben, dass es sie geben sollte. Sehen, das meint hier auch hören, und sehen, das meint hier auch träumen. Guerra zeigt in seinem dritten Spielfilm, wie ein Mensch, der ideellen Werten folgt, seine Wurzeln überliefert und zugleich opfert, indem er vor eine Wahl gestellt wird, die dort, in den züngelnden Ästen Südamerikas, keine Wahl mehr ist: Es geht um die Frage, warum ein Individuum seinen Stamm schützt, obwohl es ihn zerstört. Karamakate, jener letzte Schamane seines Stammes, verpflichtet sich daher einer Reise, die um ihre Endgültigkeit weiß – um ihre verlorene Partie, ihren verlorenen Akt, ihre verlorene Freiheit, an die sich ein vielleicht verlorener Film schmiegt, ein sicherlich verlorenes Abenteuer. Trotz dieser flüchtigen Elemente, und trotz ihrer Demut vor dem Tod, ideologisiert Guerra nie die Sprache seiner Individuen. Eine Sprache, die viele Sprachen ist.

Diese Sprachen sterben – und diese Sprache, die wir Film nennen, stirbt gleichermaßen. Doch Guerra köpft in kenternden Schwarz-Weiß-Fotografien die Chimäre in seiner Brust, die sich um ihre Modernität und die Modernität ihres Mediums sorgt. Seine Dramaturgie erobert das Nutzlose wie einst Werner Herzog, nur erotisierender, bewundernder, fließender. Indem er zwei Männer, Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijvoet) und Richard Evans Schultes (Brionne Davis), als Forscher auf die Pirsch schickt, ein sagenumwobenes Halluzinogen, die Yakruna, zu entdecken, drangsaliert er uns, einzukehren und der Aufgabe nachzugeben, Film lediglich zu beobachten. „Der Schamane und die Schlange“ mahnt uns, die Zeit stillstehen zu lassen. Mit dem Wissen, dass wir nur zu den Entdeckern unserer Menschlichkeit werden können, wenn wir erkennen, wie wertvoll Stillstand ist. Und wie selten er mittlerweile, auch im Film, geworden ist. Der Trip in das Herz des Kautschuks und des Kolonialismus ufert entsprechend in zwei Zeitebenen aus, er ziemt sich zur Rast und zur Raserei, er meidet und bedrängt. Seine Vollkommenheit ist lose und mangelhaft – wie die Natur des Menschen. Und wie deren Unzulänglichkeit wird auch Guerras Exkursion makellos, weil sie das Gegenteil abbildet.

Seine Welt brennt, seine Bäche reißen, seine Figuren hechten im Kreis und schnupfen auf brachialste, cineastischste Weise Kokain, während ein Phonograph Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ anstimmt. Irgendwo lauert immer ein Schrecken, dem ein stilles Konzert vorangeht und eine arglistige Täuschung folgt. Der Fanatismus jedoch ist allgegenwärtig, sein Ende eine Utopie, derer Koch-Grünberg und Schultes begegnen wollen, aber nicht begegnen können. Es ist diese Hoffnungslosigkeit, in die Guerra seine Geschichte und das Produkt jeder Geschichte zwängt, welche uns in einen hypnotischen Schwebezustand entführt. Irgendwo, will er sagen, irgendwo zwischen Farnen und Luftwurzeln existierte einmal eine andere Welt, in der Träume ihren Ursprung hatten, die es zu träumen wert war. Wer aber zu lange auf jene Träume blickt, sieht bald nichts Traumhaftes mehr – sondern nur noch die kahle, bissige Realität. Am Ende blickt auch Schultes in sie, in der Hoffnung, durch sie etwas zu finden, das nicht mehr ist und nicht mehr sein wird. Und wir schließen uns ihm an.

Meinungen

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