Zwischen Wissen und Wissenschaft porträtiert David Cronenberg den Albtraum aus Fleisch und Blut mit Gift und Galle. Zeit, ihm in einer Retrospektive zu huldigen! Des Parasiten sechster Schlag mit „eXistenZ“.

Die Pistole der Zukunft ist ein Produkt aus Zähnen, Knochen und Sehnen – und unaufspürbar für jede Sicherheitskontrolle, die nur das Anorganische als Gefahr identifiziert. David Cronenberg stellt damit in „eXistenZ“ sogleich fest: Nicht die Maschinen, ihre Drähte und Platinen sollten wir fürchten. Sondern die Rhetorik der Virtuellen Realität, die sich in die Synopsen unseres Geistes dreht und dort Sprengladungen platziert, auf dass wir keine „Matrix“ und keinen Auserwählten mehr benötigen, der uns an die Schalthebel unseres Daseins zwingt. Wenn ihr leben wollt, sagt Cronenberg, stöpselt euch an eine Konsole an und beginnt ein Spiel, indem ihr ein fleischiges Steuergerät in die Hand nehmt. Der Controller aber gleicht einem glucksenden Fötus, der Joystick einer überdimensionalen Klitoris, der Akt des Spielens einer Masturbation. Womöglich ist „eXistenZ“ deswegen eine subtile, metaphorische Erfahrung: Weil der Film sexuelle, körperliche und damit nahe, verständliche Symboliken sammelt, sie bis zur ekelerregenden Irritation von vertrauten Vorstellungen entfernt und in Richtung unserer Träume rückt. Der Körperhorror zeigt sich dabei à la „Videodrome“ in einem Parasiten, der als solcher spät erkannt wird. Freilich ist der Terror allerdings auch wieder das Fabrikat eines verrückten Wissenschaftlers. Nur ist dieser nicht, wer er scheint. Was daran liegt, dass Cronenberg seine Antagonisten mit jedem Level und jeder Ebene erweitert und neuen äußeren Hüllen unterwirft. Die Existenz ist an keinen Körper gebunden – sie ist replizier- und reproduzierbar.

Daher bevölkern „eXistenZ“ Individuen, die ausschließlich im Kreislauf eines Systems einzigartig wirken, obwohl sie in der Realität als Marionetten fungieren. Wie der Leibwächter Ted Pikul (Jude Law), die „Game pod goddess“ Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) und der Tankwart Gas (Willem Dafoe) besitzt jede Figur eine Funktion, die sie und ihren Charakter formt – nicht aber im Sinne eines freien Willens. Einige Figuren sind in der Lage, ihr Erlebnis unbewusst zu kontrollieren; andere leisten, sofern sie mit den richtigen Stichworten gefüttert werden, rudimentär Hilfe, um den Fortschritt der Handlung zu sichern. Die Handlung selbst tarnt sich allerdings als Chiffre (oder roter Hering), in der ein jüngst entwickeltes Spiel an Probanden mit Haut und Haar erprobt wird. Diese stehlen sich Checkpoint um Checkpoint weiter hinein in ein Labyrinth multipler Realitäten, die weitere Interpretationen und Bewusstseinsebenen offenbaren. Die Realität präsentiert sich in dieser Parallelwelt jedoch lediglich als Rumpf, aus dem sich die Zoten der Illusion bilden. Ein Netzteil oder Batterien zur Inbetriebnahme eines Systems? Nicht mehr nötig. „eXistenZ“ nutzt biochemische und gentechnologische Visionen, die mithilfe des Puppenspielers und Dompteurs Cronenberg, der einst Wissenschaftler werden wollte, zu einer konsequenten Allegorie gedeihen. Zu einem Gleichnis über den Unsinn eines konkreten Realitätsbegriffs, der sich nicht nur medial dekodieren lässt. Wenn überhaupt.

Nicht umsonst spricht Allegra mit Stolz von ihren brandneuen Spielzeugen, die mit Spucke oder Gleitmittel ausprobiert werden wollen. Ein sogenannter Bioport ermöglicht erst die Erfahrung des Spiels – und dieser Port ist wortwörtlich eine Schnittstelle im unteren Bereich der Wirbelsäule, der über eine Nabelschnur, die mit der Konsole verbunden ist, das zentrale Nervensystem anregt. Kein Wunder, dass Ted sich vor der Modifizierung seines Körpers fürchtet: Der Mensch wird bei Cronenberg abermals zu einer Geisel des Fortschritts. Wo jedoch beginnt die Paranoia und wo endet sie? Zeigt sie sich bereits in den mutierten zweiköpfigen, urweltlichen Amphibien, die zunächst nahe der Tankstelle umherstreunen und später als Spezialmenü auf dem Teller eines chinesischen Restaurants landen? Oder in den milchig weißen, penisförmigen Gebilden, die wie frühe bildschirmlose Handys funktionieren und bei einem Anruf rot vibrieren? Ziel des Spiels? Nicht das Ziel ist relevant, sondern die Erfahrung. „eXistenZ“ muss folglich keine exotischen maschinellen Schöpfungen ausbreiten – der wahre Schrecken zeigt sich, indem Realität und Fiktion derselben organischen Natur folgen. Eine Realität muss nur als Realität verstanden werden, um Realität zu sein. Und wenn Adam und Eva vom Apfel ihrer Schöpferin Allegra Geller naschen, ist die anale, imaginäre Stimulation nicht mehr mit Scham konnotiert.

Meinungen

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