Terry Zwigoffs „Ghost World“ erweitert unsere Ode an die Hüter der Menschlichkeit – so außerirdisch sie manchmal auch sein mögen. Ein Hoch auf die Superhelden!
Irgendwo am amerikanischen Furz der Welt: Die Eichen stehen, die Latexmasken sitzen, die Sonne scheint. Die intellektuellen Pubertierenden wollen davon allerdings nichts wissen – sie denken sich den nahen Sexshop als Sehnsuchtsort des Proletariats. Dort, wo sich die Fantasien der Männer aufladen, huschen sie in ihren Träumen um die Regale und lachen jene aus, deren Leben eine letzte Erfüllung im Porno finden. Denn von der Realität selbst ist nichts mehr zu erwarten. Kein Sex, keine Drogen, kein Rock’n’Roll. Nur McDonalds, Starbucks, Regal Cinemas. Enid – minderjährig, Pagenschnitt, mit Hang zu Old-School-Klamotten – findet diese freudlosen Franchise-Fanatiker und ihr Dasein lächerlich. Wie sie eigentlich alles lächerlich findet: die Satanisten im American Diner, die Schallplattensammler und ihren Garagenverkauf, den halb nackten Vokuhila-Träger mit Schnauzer, Sonnenbrand und Nunchaku, die Highschool, ihren Vater, dessen neue, alte Flamme Maxine. Um Enids Sozialleben steht es dementsprechend schlecht. Selbst ihre einzige Freundin Rebecca merkt nach langer Odyssee um eine gemeinsame Wohnung, dass sie einander fremd sind – dass Enid nicht das Ideal des braven Spießbürgers mit Kind, Kegel und Eigenheim anstrebt. Was Enid nicht weiß: In dieser Oase der Scheinheiligkeit und des Kommerzes ist sie eine Superheldin. Um ihre Kräfte jedoch zu finden, muss sie aus der Stadt – dieser „Ghost World“ – fliehen, die ihr und ihrem exzessiven Nonkonformismus nichts Gutes will.
Weil Daniel Clowes noch vor der Wende zum 21. Jahrhundert ein Tor in diese Tristesse der Adoleszenz aufschloss, wirkt das Szenario um die arglos selbstsüchtige Enid heute wie ein feister Diebstahl, den zig Werke seitdem begangen haben. Aber was sich Clowes erdachte, in seiner Zeitschrift „Eightball“ von 1993 bis 1997 als Underground Graphic Novel publizierte und 2001 mit Terry Zwigoff nochmals als Film aufbereitete, rekreiert weder das Einmaleins popkultureller Süffisanz noch die unbedingte Selbstzerstörungswut, die das Genre nun beinhaltet. Natürlich drängt sich „Ghost World“ dennoch als Hommage an das narzisstische Wohlfühlspektakel des modernen Coming-of-Age-Films auf – wie könnte es auch anders sein, bei einem Film, dessen Protagonistin ihre Haare von Schwarz zu Grün färbt, mindestens zehn wechselnde Brillengestelle ihr Eigen nennt und jedes lebende Objekt in ihrer Nähe anblafft, nachäfft oder mit großen unbewegten Augen ignoriert. Enid ist ein Übel, welches aus der Geisterwelt wie ein wunder Daumen hervorsticht, weil sie ihrem Zynismus, Egoismus, ihrer Dysfunktionalität und Sexualität ein Ventil gibt. Nur kann dieses Ventil niemand mit Enids eigentlich zutiefst nachdenklicher Sinnsuche nach einer Aufgabe im Leben verknüpfen, die nichts mit Fast-Food- und Multiplex-Ketten gemein hat. Heute würde sie als Hipster tituliert, ihr Stil als Granny-Look gepriesen, ihre Musik von Mohammed Rafi bis zu Skip James als alternativ verschrien werden. Bei Clowes gibt es für sie noch keinen definiten Namen, keine Subkultur, der sie angehören könnte. Am ehesten wäre sie wohl ein Bohémien.
Eine ironische Revolution liegt nicht nur Enids Wesen, sondern auch Zwigoffs Inszenierung zugrunde, welche gänzlich ohne Hohn, Spott, Stolz oder Zorn die Spezies Außenseiter präsentiert und in den gespensterleeren Straßen sogar eine Dystopie erkennt, die erst in den Folgejahren im Kosmos der Blockbuster ankommen sollte. Als Enid dann den blassen, dünnen Einzelgänger Seymour über einen Telefonstreich aufgabelt, finden sich zwei Menschen, die einander nicht zwingend mögen, im Gegensatz zur restlichen Menschheit aber auch nicht hassen. Seymour – Mitte vierzig, Rückenprobleme, Sammler von alten Schallplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute – scheint wie eine posttraumatische Version Enids, die irgendwann im Sondermüll der Sozialphobiker landete. Daher fühlt sie sich ihm nah, obwohl zwischen ihnen kein Raum für eine obskure hollywoodeske Romanze entsteht. Lediglich ein One-Night-Stand ist drin. Und selbst dieser wird fern der üblichen Liebeleien arrangiert, die einem die Traumfabrik verkauft.
Oder wie Enid im Graphic Novel sagt: „I feel like I want to become a totally different person.“ Und in diesem Sinne darf auch „Ghost World“ ein ganz anderer Film sein. Einer, der den Blick in den Spiegel nicht scheut, Trost spendet und doch ebenso keine unbedingte Veränderung fordert. So wirkt das Ende heute wie ein kleiner Seitenhieb auf die Karrieren seiner beiden Schauspielerinnen, welche die pubertären Gören Rebecca und Enid mimen. Während Rebecca sesshaft wird, sich womöglich einen zahmen, konservativen Mann sucht, mit diesem Kinder bekommt und keinen Groll gegen die Sinnlosigkeit des Lebens hegt, steigt Enid in den eigentlich ausrangierten Bus an der Ecke und fährt ins Nichts – in eine vielleicht dennoch hoffnungslose Zukunft. Scarlett Johansson spielt Rebecca und ist mittlerweile eine sesshafte Queen des Showbiz; Thora Birch spielt Enid und ist mittlerweile ihrer Profession entflohen. Vermutlich stieg auch sie irgendwann in einen Bus und fuhr los. Denn Daniel Clowes war sich bewusst: Kein Weg ist besser, kein Weg schlechter. Aber einen Weg wählen, das muss letztlich doch jeder in dieser Geisterwelt.
Und manche, ja, ganz wenige, werden ihr Exil überwinden und ein neues Instrument der Hoffnung finden. Vielleicht wird Enid auf ihrer Reise die Kräfte von Andy entdecken, einem ebenso Clowes’schen Helden aus „Der Todesstrahl“, der feststellt, dass ihm der Genuss von Nikotin Superkräfte verleiht. Rauchen kann eben tödlich sein …
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