1980 beobachtete Al Pacino homosexuelle Männer. Er verkörperte Ed Burns, einen heterosexuellen Undercover-Cop, der eine Mordserie im vibrierenden, fiebrigen Clubinferno der Lederszene aufzuklären hatte. Alsbald über seine eigene Sexualität, über die Versuchung einer radikalen Norm verwirrt, entgeistert, manisch-fasziniert, seilte er sich dort ab, was ihm zunächst außerhalb seiner Empfindung erschien – schwitzendes, balzendes, einbalsamiertes Fleisch an einem ausgefallenen Ort, einer schummrigen Tanzspelunke, triebgesteuert aufgeladen zwischen hypnotisch vorbeirauschenden Lichtblitzen und –reflexen. Burns observierte ein Milieu, aber in Wahrheit erkundete er sich selbst. William Friedkins polarisierender Klassiker „Cruising“ balancierte seinerzeit auf einem schmalen Grat. Seine Ecken und Kanten, Homosexualität entweder in hymnisch-hemmungsloser Befreiung darzustellen oder homophob zu dämonisieren, hat „Cruising“ allerdings bis heute nicht abgeschliffen. Der Film erliegt nach wie vor einer abgründigen Anziehungskraft, durch deren ebenso manipulative wie suggestive Energie man sich ihm ausgeliefert fühlt.

Die widrigen Produktionsumstände, mit denen Friedkin damals zu kämpfen hatte, die Anfeindungen verschiedener Interessengruppen, der Hass, Protest, die Drohungen und das Tabu der Normalität, gipfelten schließlich in vom Studio angeordneten, herausgeschnittenen vierzig Minuten, die seither verschollen sind. Kontroverse vierzig Minuten, wenn man den Gerüchten glaubt. „Interior. Leather Bar.“ ist nun die Renaissance jener geheimnisvollen Impressionen, die Friedkin nicht verwenden konnte. Ein wagemutiges Projekt, initiiert von Universalwerbefigur James Franco und seinem Kumpel Travis Mathews, sowohl „Bondage-Kunstporno“ (der Begriff fällt während des Drehs) als auch entartete Installation, der Versuch einer künstlerischen Deutung eines, wenn man so will, „offenen Kunstwerks“ und zugleich der spielerische Umgang mit selbstreflektierender Trivialkultur und impulsiver Körperästhetik, die das postmoderne Zitat und die Hommage als gemeinsamen Nenner versteht, um zu suchen, warum man es macht, und um zu erkennen, dass man es machen muss.

Einer logischen Struktur, einem Leitgedanken folgt „Interior. Leather Bar.“ nicht. Ähnlich wie „Cruising“, dessen visueller Exzess gewöhnlich konterkariert wird von einem traditionellen Slasher-Überbau (merke: das Messer als Phallussymbol) labert sich Francos und Mathews’ ambitionierte Nachstellung und Erweiterung durch Gedanken, Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten und offene Fragen überwiegend zerfasert, assoziativ, roh. Bald wird deutlich, dass Friedkin und Pacino lediglich eine Art austauschbare Ursache repräsentieren, indem sie in Wahrheit eine untergeordnete Rolle spielen. Eigentlich geht es Franco darum, innerhalb der künstlerischen Unvereinbarkeit von Freiheit und Zwang ein Bewusstsein dafür zu schaffen, Sex als das zu akzeptieren, was er ist: Spaß, Freude, Lebensvitalität, unbedingt für alle (!) Menschen zeigbar und nur deshalb verpönt, weil der Verstand automatisch zur herzhaften Übertreibung und lustvollen Ausmalung neigt.

In manchen Gesprächsrunden bei Kaffee- und Mittagspausen wirkt „Interior. Leather Bar.“ insofern wie ein launiges, latent romantisches Kaffeekränzchen unter verrückten Freunden, die sich intime Dinge erzählen, obwohl sie den Sinn dahinter beharrlich herauszufinden versuchen, während ihr gesellschaftlich zu gern als abnorm deklarierter Fetisch in allen Varianten nach kurzer Eingewöhnungszeit zu etwas mutiert, das schulterzuckend hingenommen wird. Da baumeln Hoden und erigierte Schwänze, Berührungen, Liebkosungen, Lust, Begehren vor der Kamera, immer ungefiltert, direkt und bemerkenswert naturalistisch – alles völlig normal, alles okay, alles andere als schlimm. Hey, seht mal hier, ihr Verfechter einer emanzipatorische Werte propagierenden Zeit, die bei dem kleinsten Anflug von „unkonventioneller“ Erotik prüde zur Seite blickt.

Weil „Cruisung“ aber bedauerlicherweise zum Randaspekt verkommt (Fragen des persönlichen Lieblingsfilms mit Al Pacino bilden den Höhepunkt des Interesses), hat Francos und Mathews‘ etwas redundant vollgequatschte Semidokumentation jedoch kaum kluge Zusammenhänge und neue unerforschte Blickwinkel dem hinzuzufügen, mit dem sich ihr Werk rühmt. Nach „Interior. Leather Bar.“ bleibt „Cruising“ wie „Cruising“: für die einen Schande, für die anderen eben Erlösung. Um Friedkins Motivation und Intention trotzdem verstehen zu wollen, ist „Interior. Leather Bar.“ folglich denkbar ungeeignet, denn dahinter verbirgt sich vielmehr eine frontale Abrechnung mit dem System menschlicher Vorbehalte, keine filmdokumentarische Rehabilitation. Das Schöne und auch Enttäuschende daran ist, dass James Franco am Ende ausschließlich eine Plattform gefunden hat, seine Meinung einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen, so wie Ed Burns sich vielleicht in „Cruising“ gefunden hat. Hauptsache Befreiung und Klarheit. Und plötzlich verschwindet „Interior. Leather Bar.“ in der Nacht.

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