Es klingt nach anstößigem Verhalten: Ein Mittvierziger lackiert die Fußnägel einer 15-Jährigen und genießt währenddessen in obsessiver Faszination die dabei entstehende Sinnlichkeit. Stanley Kubrick erschuf 1962, sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Vladimir Nabokovs Skandalbuch „Lolita“, zwar keinen Meilenstein der Filmgeschichte, offenbart im Vergleich zu Adrian Lynes Neuverfilmung von 1997 aber deutlich, wie gut er seine Figuren in Beziehung setzen und Zusammenhänge zeigen konnte, ohne sie zu verbalisieren. Im Grunde reicht die beschriebene Sequenz des Fußnagellackierens aus, um die Komplexität und Ambiguität der skandalösen Situation darzustellen – was auch darauf zurückzuführen ist, dass Kubrick vielmehr Maler als Erzähler ist: Man betrachtet seine Gemälde und findet einen Sinn. Lyne wagt sich an den viel besprochenen Stoff durchaus mit eigenem Stil heran – einer Mixtur aus klassischem Erzählkino und außergewöhnlichen Einstellungen –, doch mangelt es dem Briten an Struktur und Tiefe.

In oberflächlichster Art wird die Zärtlichkeit Lolitas (Dominique Swain) – die übrigens wie in der Vorlage zwölf Jahre alt ist – als erotisierendes Element benutzt: Sie lutscht an Bonbons und Bananen und schreit wie eine lustvolle Nymphe nach Sex (?). Ihr Stiefvater Humbert Humbert (Jeremy Irons) kommt da gerade recht und beseitigt auch gleich die nervige Mutter Charlotte (Melanie Griffith). Als ob Lyne die Kenntnis des Buchs verlangen würde, reiht er eine Szene an die andere und vergisst dabei vollkommen, einen nachvollziehbaren Handlungsstrang zu generieren. Was ist mit der Beziehung zwischen Humbert und Charlotte? Die einzelnen, wichtigen Handlungsschritte werden innerhalb weniger Minuten zusammenfassend manövriert; zwischendurch mal ein lasziver Blick von Lolita im Wechsel mit dem grinsenden Humbert. Es handelt sich hierbei aber keineswegs um eine Parodie, sondern um ein vollkommen ernst gemeintes Porträt eines Parthenophilen, der seinen Lebensfokus auf ein Mädchen einstellt, sie als geliebte Muse mit Eifersucht verfolgt und am liebsten in diesem Schwebezustand des unbändigen Verliebtseins sterben würde – wohl wissend, wie höllisch sein Paradies in Wirklichkeit ist. Wieder ist es Kubrick, der dies besser darstellen konnte: In seiner Interpretation hat die Obsession Vorrang – es ist nämlich keine Liebe, sondern liebende Faszination, die Humbert ergreift.

Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Humbert leidet unter seinem Kontrollzwang, Doppelleben und vor allem dem Irrglauben, seine Stieftochter sei in seinem Besitz. Er erkennt nicht das Spiel des Mädchens, das mit einer frühreifen Femme fatale gleichzusetzen wäre, würde es sich nicht um eine Heranwachsende handeln, die sich vom Reifeprozess per se leiten lässt. Natürlich ist ihr Verhalten spielerisch – Swain kokettiert gekonnt mit allen Mitteln –, doch ist das weder fatal noch ungewöhnlich. Humberts aussichtsloses Verfallen wird in Lynes Version viel zu unbefriedigend in den Raum geworfen. Er schafft es nicht, die komplexe Situation angemessen zu bebildern, da er zum einen Humbert empathisch behandelt, ohne dessen innere Zerrissenheit zu zeigen, zum anderen, da wegen der unausgegorenen Erzählweise kaum abschließende Szenen entstehen – wie ein großes Durcheinander voll wunderschöner Natur, angedeuteter Erotik, schlechtem Schauspiel und karikativer Aussetzer. Was beide Verfilmungen gemein haben, ist die nicht vorhandene Authentizität der gealterten Lolita. Ein schwer vermeidbarer „Fehler“, der trotzdem beiden Adaptionen schadet.

Die vielen Zeitsprünge bewirken, dass der Zuschauer keine Bindung zum Geschehen erhält – Kubrick weckt dagegen allein schon Interesse, weil er in gewohnt starken Bildern Figuren inszeniert, denen etwas innewohnt, dass man aus Neugier erfahren möchte. Lyne lässt dies nicht zu und scheitert – wohlgemerkt ambitioniert, aber nicht allein schuldig – an der Umsetzung von Stephen Schiffs Drehbuch, welches fragmentarisch und unüberlegt wirkt.

Meinungen

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