Ein kräftiger Espresso zum sündhaften dolce oder doch ein gediegener afternoon tea? Warum nicht beides? Regeln, nicht nur kulinarischer Natur, sind da, um gebrochen zu werden; das wusste auch der Schriftsteller Edward Morgan Forster. Fast dreißig Jahre ist es her, dass der amerikanische Regisseur James Ivory Forsters gleichnamigen Roman „Zimmer mit Aussicht“ („Room with a View“) adaptierte und auf die Leinwand brachte. Seiner Zeit mit etlichen renommierten Preisen überhäuft (Oscars, BAFTAs, Golden Globes), gehört dieses kleine romantisch-ironische Spektakel auch heute noch zu den wundervollsten Liebesschnulzen, die jemals das Licht der Welt erblickten. „Zimmer mit Aussicht“ verursacht kurzzeitige Herzrhythmusstörungen, lässt Mädchen- und Frauenherzen um einiges höher schlagen. So selten und kostbar, ist es einer jener Filme, die einen als Teenager in ihren Bann ziehen und nie mehr loslassen. Es sind bewegte Bilder, die uns ein in der Realität kaum erfüllbares Ideal von Liebe und Seelenverwandtschaft vorgaukeln. Und gerade deshalb muss man dieses filmische Meisterwerk lieben.

„Zimmer mit Aussicht“ spielt in England und Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Zuschauer dürfen wir der zarten Heldin Lucy Honeychurch (Helena Bonham Carter) dabei folgen, wie sich auf ihrer toskanischen Bildungsreise, begleitet von ihrer verschrobenen Cousine und Anstandsdame Charlotte (Maggie Smith), zuerst in ihre florentinische Zimmeraussicht und anschließend in den jungen, wenn auch leicht schweigsamen Hotelgast George Emerson (Julian Sands) verliebt. Hin- und hergerissen zwischen italienischer Leidenschaft und post-viktorianischer Prüderie, zeigt Lucy George anfangs die kalte Schulter, doch nach dem Überstehen einer gemeinsam erfahrenen Tragödie lässt sie sich dazu hinreißen, Gefühle für George zu entwickeln. George spielt nicht, er empfindet dasselbe für die junge Dame. Doch das unschuldige Glück währt nicht lang, als die beiden in kitschig-schöner Szenerie unter strahlend blauem Himmel, umgeben von einem goldenen Kornfeld sich zum ersten Mal küssen und prompt von der übereifrigen und entsetzten Charlotte überrascht werden. Aus dem unschuldigen Kuss wird ein Eklat, ein interner Skandal – und so beschließt die recht bigotte Charlotte, die Reise sofort abzubrechen und zurück nach England zu reisen, damit es zwischen ihrer jungen und naiven Cousine Lucy und dem vermeintlichen „Weiberhelden“ George nicht noch zum Äußersten kommt. Frei nach dem Motto: „Aus einer Mücke einen Elefanten machen“.

Bald Schnee von gestern willigt Lucy im heimischen Surrey ein, sich mit dem zugeknöpften, rechthaberischen und bornierten Cecil Vyse (Daniel Day-Lewis) zu verloben. Doch einschneidende Lebensereignisse zu ignorieren und unter den Teppich zu kehren, macht wenig Sinn, und anders als Gouvernante Charlotte zu wissen glaubt, haben Lügen kurze Beine! Es drohen Tratsch und Klatsch und ein Verlust von Contenance und Ehre.

Humorvoll werden anhand von Lucys Schicksal die Sitten und Gebräuche der besseren Gesellschaft infrage gestellt, wenn nicht gar belächelt. Tourismus- und Italienklischees werden mithilfe opulenter Landschaftsaufnahmen und skurriler britischer, wie italienischer Nebencharaktere mit Eleganz durch den Schlamm gezogen. Aus der naiv wirkenden Romanze entwickelt sich bald eine köstliche Gesellschaftssatire. So wird hier etwa die Eloquenz des Kultur verliebten Bürgertums aufs Korn genommen, wenn sich hinter dem wortkargen George ein abenteuerlustiger, romantischer, leidenschaftlicher und aufrichtiger junger Mann verbirgt, der ohne die Liebe nicht zu existieren vermag, während sich der perfekte Dandy Cecil als emotionslose, leere Hülle entpuppt, die nichts als Worthülsen zu bieten hat. Beide Männer, die, mal mehr, mal weniger, um die Zuneigung Lucys buhlen, stellen ein intelligent konstruiertes antagonistisches Charakterpaar dar. Ähnlich verhält es sich mit der reinen, aber im Herzen wilden Lucy und ihrer stocksteifen Cousine Charlotte.

E.M. Forsters Erzählung ist zwar „very british“, doch ist sie nicht gar so ausstaffiert, realitätsfremd und gekünstelt, wie es bei Jane Austen der Fall ist; auch der schwarzmalerische Fatalismus, die weltentfremdete Dramatik à la Brontë begegnet einem hier lediglich in Ansätzen. Forsters Konstrukt aus Ereignissen hat etwas Leichtes, etwas Natürliches, ist trotz seines leicht herben Nachgeschmacks, so vollmundig und samtig wie ein zarter schmelzender Trüffel, ummantelt von edelster Zartbitterschokolade. Forsters Charaktere sind nicht unnahbar. Sie sind alle auf ihre eigene Art sympathisch. Sie sind weder makellos, noch entsprechen sie archetypischen Feindbildern. Trotz der subtil bissigen Dialoge verfällt Forster auch niemals in den zynisch-selbstverliebten Ton, wie man ihn von Oscar Wilde kennt. Er stellt dar, aber macht keine ultimativen Feststellungen, ist ironisch, aber nicht urteilend und berechnend. All diese wundervollen Aspekte des Romans setzt Ivory in seinem Film gekonnt um. Er wie auch sein langjähriger Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala scheinen mit einem Gespür für Geschichten von Schönheit gesegnet. Ihre Leidenschaft für Literatur und der nötige Respekt für die Vorlage haben Cineasten und Literaturliebhaber immer wieder gleichermaßen verzaubern und betören können. Auch weitere Literaturverfilmungen, wie etwa „Wiedersehen in Howards End“ (1992) oder „Was vom Tage übrig blieb“ (1993), sind hierfür Zeugnis. Kaum jemand versteht es so wie das Filmemacher-Trio, Romanen Esprit und Leben einzuhauchen, ohne sie dabei zu korrumpieren.

Nebst der süffisanten Dialoge und der prächtigen Bilder weiß der Film mit einem genial-komischen Ensemble zu begeistern, in dem vor allem Day-Lewis und Smith ihre Rollen mit einer unheimlichen Perfektion spielen. Und auch Helena Bonham Carter: bezaubernd schön, unschuldig und in dieser Rolle selbst fast süßer als Honig, ist absolut sehenswert. „Fenster mit Aussicht“ ist ein filmischer Hochgenuss. Sich selbst noch ein Mal zum ersten Mal verlieben, das Herz klopfen zu hören, das flaue und dennoch angenehme Gefühl, welches sich in der Magengrube verbreitet, zu genießen, sich zurück in Zeiten der Unschuld zu begeben; dies sind die Sehnsüchte, welche Forsters perfekt inszenierte Romanadaption beim Zuschauer erweckt. Absolut sehenswert! Für romantische Kuschel-, oder rührselige Mädelsabende auf dem heimischen Sofa. Ein absolutes Muss für alle Liebhaber von Schönem und Geistreichen.

Meinungen

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