Gerne will Regisseur Johannes Schmid in seiner Verfilmung von Peter Stamms Roman „Agnes“ Funktionen und Perversionen des Eskapismus psychologisieren, unter die Lupe nehmen und als Knackpunkt einer dramatischen Liebesgeschichte stilisieren. Das größte Problem allerdings ist, dass der Zuschauer ihm von Anfang an voraus sein dürfte und dennoch an der Hand geführt wird. Schließlich behilft sich der Film einer inszenatorischen Eindeutigkeit und Einfältigkeit in der Charakterzeichnung, obgleich das Narrativ nach einer Dekonstruktion konventioneller Muster verlangt, die an dieser Stelle jedoch oberflächlichen Idealen hinterherjagen, während die Konsequenz des Ganzen schon von zig Filmen ähnlicher Thematik (unter anderem „Ediths Tagebuch“) überholt wurde. Vielleicht mag das an der 1998 erschienenen Vorlage liegen; ein Protagonistenpaar, das sich mit ideologiegeschwängerten Dialogen nicht an der jeweiligen Persönlichkeit, sondern an Geschichten orientiert, wirkt unabhängig der jeweiligen Ära schwer zugänglich – Ayn Rand lässt grüßen.

Einerseits ist dem Film, der sich in der Deutung der Realitätsentfremdung geißelt, auf diesem Wege schnell auf die Schliche zu kommen; andererseits hemmt er sich weitaus mehr, als zur Beobachtung einer asymmetrischen Sehnsucht nach Wahrheit und Fälschung nötig wäre. Ersatzgefühle für jene funktionellen Schablonen werden sodann ersucht, indem der Soundtrack beständig Atmosphäre und Melancholie aufsetzt, während Gesichter Reflexionen ihres eigenen Ichs in Spiegelungen zu finden glauben. Agnes (Odine Johne) und Walter (Stephan Kampwirth) stehen emotional stets vor einem glaubwürdigen Ausbruch, die Regieanweisungen klären sie jedoch durch überakzentuierte Mechanismen und plumpe Drehbuchsätze auf, dass jeder Raum für Interpretation schon besetzt ist. Nun kann es durchaus reizen, wenn ein Film seinen inneren Diskurs offen an die Oberfläche dringen lässt und über passionierte Figuren zum Expressionismus ansetzt. „Agnes“ vermittelt jedoch den Eindruck, dass der Subtext als aufgedunsene Leiche angeschwemmt kommt. Jede Faszination, ob nun zum Tode, zum Metaphysischen oder zur Zukunft, wird wie auf Stichwort aufgesagt und kommt eher behauptet an, als dass sich eine wahre Leidenschaft im Ensemble abzeichnen würde (ganz zu schweigen von den charakterlosen Nebenfiguren).

Gleiches gilt für den Einsatz des Körperbetonten, der zwischen Blümchensex im Dunkeln und Mein erstes Poppen im Freien eher Pflicht erfüllende Spitzen erreicht. Aber soll ja so, könnte man meinen, dass Schmid sein Paar als Extremfall des Introvertierten präsentieren möchte. Ein legitimer Ansatz, der Feingefühl erfordert, hier jedoch als externe Emotionalisierung auf Hochtouren betrieben wird. Verständnis äußert sich am stärksten in der Beziehung der Beiden, wenn sich Walter diese als Vorlage für seinen nächsten Roman auswählt und in der theoretischen Fortsetzung auf die schrecklich normalsten Klischees zurückgreift – wohlgemerkt unter Aufsicht von Agnes, deren Charakter ebenso archaische Einfälle vorweist. Die Stagnation vergräbt sich sogar so tief in Redundanz, dass („Die Vorsehung“ nicht unähnlich) mehrere Male rückwärts gespult und geblitzdingst wird, um verklärte Realitätsbilder nachträglich als überflüssig zu entlarven.

Welch Trauer, welch Leid – dabei steht das klassische Beziehungsmodell ohne Pein für Walter nebenan bereit. Da gibt’s auch die „wichtigen Leute“, die weiterhelfen können, während zwischen Walter und Agnes bereits von Anfang an alles verloren scheint. So sicher und bedrückt, wie Schmid auf jene Schlussfolgerung schielt, möchte man glauben, dass er sich das Glück wirklich im märchenhaften Konsens vorstellt, also mitten im orangefarbenen Lichteinfall à la Til Schweiger, mit Baby Emma und sonnigen Spaziergängen durch Düsseldorf. Vielleicht orientiert er sich aber auch an Charakteren, die im Dialog das Profunde ergründen wollen, aber nur an der Oberfläche kratzen, dem Gegenüber Liebe behaupten und es doch kaum kennen. Das Reelle birgt aber auch bei ihnen harte Konsequenzen – und so weiß der Film trotz aller Traumtänzerei nur zu gut, dass er nur skizzenhafte Beweggründe, Inhalte und Gefühle vorweisen kann.

Meinungen

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