„Let me explain the universe of Neil McCormick. He’s like a planet, Saturn say.“

Wie zwei Planeten in einem unheilvollen Universum kreisen Neil und Brian um die majestätische Sonne. Beide verbindet das gleiche, mysteriöse Geheimnis bei doch so unterschiedlichen Schicksalen und beide entwickeln sich in der Konsequenz vollkommen konträr. Gregg Araki, Meister des New Queer Cinema, des damit zusammenhängenden Independentfilms und Schöpfer der „Teen Apocalypse Trilogy“, ist ein wahrer Fan des Shoegazings. Das Ende der Achtziger durch My Bloody Valentine, Slowdive, Cocteau Twins und Ride in Großbritannien entstandene Subgenre, das sich durch mehrere, effektbeladene Gitarrenebenen und auf Distortion prallenden, ätherischen Gesang auszeichnet, ist in seinen Filmen schon eine Art Markenzeichen. So bewegen sich die Darsteller in „Mysterious Skin“ auf den melancholischen Klängen, immer in Bewegung, weiter kreisend, die Sonne fest im Blick.

Neil (Joseph Gordon-Levitt) ist ein Siegertyp, übrigens passend zu seiner Namensbedeutung, der sein immenses Potenzial in einer Mischung aus Hypersexualität und Lethargie verliert. Ein homosexueller Gott, der von allen Menschen, die auf ihn treffen, bewundert und begehrt wird – ähnlich dem vom (Araki ist bisexuell, Anm. d. Red.) homosexuellen Italiener Pier Paolo Pasolini in „Teorema“ geschaffenen Gast –, sei es seine Mutter, sein bester Freund Eric, seine beste Freundin Wendy oder sein pädophiler Baseballcoach, von dem er als Achtjähriger in die Welt der Sexualität eingewiesen wird. Den lieblichen Vergewaltigungen folgt ein eher latentes Trauma, welches sich dadurch ausdrückt, dass Neil jenen mehrmaligen Akt als Erkundung der eigenen Sexualität empfindet und die kranke Zuneigung des Trainers als Liebe missinterpretiert. Dieses Gefühl der Liebe sucht er in seiner Vergangenheit, das Gefühl der Erektion als Stricher. In dieser Sucht, in diesem zwanghaften Versuch des Überlebens, vegetiert er ohne Ziel und Sinn.

Brian (Brady Corbet) ist ein Losertyp, übrigens nicht passend zu seiner Namensbedeutung, der aufgrund ungeklärter, mysteriöser Umstände an die eigene Entführung durch Aliens glaubt und von Albträumen in Albträume erwacht. Seine zu vermutende Asexualität ist nur eine Folge seines Traumas, er stößt bei seinen Eltern auf taube Ohren und bekommt den Rückhalt nicht, den er so dringend benötigt. Denn die geheimnisvollen sechs Stunden, die er unterbewusst verdrängt hat und denen er selbst auf der Spur ist, interessieren weder die spießige, festgefahrene Mutter, noch den egoistischen Vater, der für Verlierer nichts übrig hat. Eines Tages lernt Brian Avalyn kennen, die scheinbar sein Schicksal der Alienentführung teilt und als Katalysator fungiert, sodass ihm Teile der verdrängten Erinnerungen wiederkommen.

Beide Planeten haben also ihre eigene Laufbahn, dennoch kreuzen sie sich immer wieder, in Träumen und ständiger Rotation um die Sonne, die ihr Leben lenkt. Araki schafft es bemerkenswert gut, diese Geschichte der Traumataverarbeitung zu bebildern. Besonders interessant wird es, wenn er Pädophilie aus der Sicht kleiner Jungen darstellt, indem er den Coach aus „Point of View“-Einstellungen direkt in die untersichtige Kamera blicken lässt, sodass man in die Lage des Opfers gelangt. Noch interessanter wird es, wenn vom Vergewaltiger dabei keinerlei Gewalt und Zwang ausgeht, sondern reines, spielendes Locken. Sogar der Akt per se ist nicht grausam anzusehen, was einen als Zuschauer äußerst irritiert und den einen oder anderen behaupten lässt: „Araki verherrlicht Pädophilie!“ Das ist aber vollkommen daneben gegriffen, vielmehr zeigt sich dessen Subtilität hier am Besten: Kinder sind zum einen hilflos und unterlegen, wenn sie in derartig extreme Situationen kommen, zum anderen sind sie leicht zu begeistern und folgen den typischen Verlockungen, wie die Maus dem Käse in der Falle. Aus dieser Mausefalle kommen sie aus physischen Gründen nicht mehr heraus, doch auch die daraus resultierenden psychischen Abgründe verlassen sie kaum wieder.

Diese realistische, kindliche Perspektive, die einem angeboten wird, ist verstörend und äußerst heftig, da sie zugleich besser verstehen lässt, wie es überhaupt zu solchen Verbrechen kommt. Dabei muss festgehalten werden, dass nicht jeder Pädophiler Böses im Sinne haben muss, es handelt sich aber um eine Krankheit, die für das Allgemeinwohl der Gesellschaft gefährlich ist, deren schwarz-weiße Bekämpfung jedoch sogar noch unmenschlicher ist, als das potenzielle Delikt an sich.

Im Kontrast zu den angesprochenen Vergehen an Kindern wird zudem die Brutalität einer sadistischen Vergewaltigung an Prostituierten offenbart. Neils Entgegennahme von Geld gegen Sex ist eine weitere Folge seiner Verarbeitung, sie wirkt wie ein essenzieller Teil von ihm. Wieder benutzt Araki extreme Detailaufnahmen und „Point of View“-Einstellungen, um den Zuschauer so gut wie möglich ins Geschehen zu involvieren. Wenn man selbst weder Sadist ist, noch homosexuelle Tendenzen hat, ist das befremdlich und teilweise unangenehm zu beobachten, was den Film aber nicht weniger sehenswert macht. Neben der wundervollen Ästhetik fällt der abrupte Schnitt auf, der ein wenig an „Twin Peaks“ erinnert. So werden Szenen und die unterlegte Musik, die noch nicht wirklich fertig erscheinen, schlichtweg hart geschnitten, was den Effekt hat, dass man einzelne Momentaufnahmen, einzelne Fotos im Bilderbuch der beiden Protagonisten erhält, deren ganzes Leben jedoch nicht greifbar, nicht wirklich sichtbar wird. Dass der Coach zusammen mit Neil das Bilderbuch ansieht, in dem sich lustige Bilder des Achtjährigen vor der Vergewaltigung als beweislose Beweise vereinen, ist daher gerade zu genial. Und wenn man für dieses Buch einen passenden Titel bräuchte, würde sich „Nur die Sonne war Zeuge“ perfekt eignen.

Meinungen

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