Aus hiesigen Landen kommt manch unterschätzter Veteran nur selten zu Ehren. Deshalb widmen wir uns dem Werk von Hans W. Geißendörfer in einer Retrospektive voller Filmschätze. Einer davon heißt „Ediths Tagebuch“.
Knapp ein Jahr nach der Besteigung des „Zauberbergs“ kehrt Hans W. Geißendörfer mit einer weiteren Romanverfilmung zurück und bleibt nah am Puls des zeitgenössischen Deutschlands. Erneut nach einer Vorlage von Patricia Highsmith geht es bei „Ediths Tagebuch“ in die Intimsphäre Familie und das Wesen einer gekränkten Mutter Anfang der achtziger Jahre. Die politische Dimension dessen ist gewiss im Zeitkolorit verankert, doch auch eine logische Fortsetzung der Mechanismen des „Zauberbergs“ in eine moderne Mitte des Bürgertums, die aus den Entwicklungen der 68er nun um Wohlstand buhlt. Der Kontrast der Berliner Villa, ihren wohl eingerichteten Arbeits- und Esszimmern zum globalen Geschehen erklärt schnell, wie müde die Revoluzzer in ihrer Gemütlichkeit angekommen sind. Edith (Angela Winkler) bemüht sich als Herausgeberin des „Signal“ noch um politische Aufmerksamkeit, doch die Kollegen sträuben sich gegen Artikel, die Kindergärten mit immigrierten und deutschen Kindern fordern. Es passt nicht mehr in deren Konzept, da es den vorteilhaften Umgang mit dem Konsens hemmt. So sehr Edith aber mit ihren Idealen Geld verdienen will, passt die Realität in vielerlei Hinsicht auch nicht mehr in ihr Konzept.
Die Entwicklungen von außen stehen ihr tagtäglich gegenüber, nicht nur in Form von Sohn Christian (Leopold von Verschuer). Als Produkt antiautoritärer Erziehung stellt er sich stets quer, ist brutal und wahllos in der Konfrontation. Sein Lebensweg bricht immer mehr zusammen und Vater Paul (Vadim Glowna) ist dabei keine große Hilfe. Im Gegenteil, trotz seiner Vergangenheit als Studentenaktivist schlägt er auf das soziale Versagen seines Sohnes genauso ein: „Du Arsch, Mensch. Merkst du nicht, dass ich dich lieb habe?“ Er spielt vor Frau und Gästen gerne heile Familie, doch betrügt erstere hinterrücks mit einer Sekretärin. Schlimmer noch: Um die Bogen zu glätten, lädt er den Keil der Beziehung zum Kaffee ein, als bedeute es das Echo der freien Liebe in erwachsenen Umständen. Der Einzige, der den Mund aufmacht und zu Edith hält, ist Christian – auch sobald Paul die Ehe verlässt, aber seinen mürrischen Greis von Onkel bei ihr zurücklässt. Der Selbstständigkeit wird sie durch ihren Ex trotzdem nicht überlassen. Ständig schickt er Geld, anstatt sie selbst arbeiten zu lassen, lädt sie zur Hochzeit ein und berichtet ihr von der Geburt seines Neugeborenen.
Angesichts dieser Umstände flüchtet Edith allmählich in ein alternatives Weltbild. Geißendörfer definiert die Ursachen jedoch nicht explizit, da der Kern in der deutschen Geschichte und ihrem Hang zur Verklärung verankert ist. In „Sternsteinhof“ und „Die gläserne Zelle“ gab man sich schon zum Betrug einverstanden, aus dem Selbstbetrug des „Zauberbergs“ folgt nun die Umsetzung ins familiäre System, das Geißendörfer in seinem Gesamtwerk nie aus den Augen lässt. Edith erdenkt sich eine andere Realität, die sie im Tagebuch niederschreibt. Oftmals schließt sie sich dabei ins Arbeitszimmer ein, das von Ranken überwuchert ist, und dreht die Musik so laut auf, bis Schreie und Schläge vor der Tür verstummen. Doch die erneut von Jürgen Knieper komponierte Musik zieht in ihre Realität hinüber, wie auch ihre Fantasie allmählich die Wahrheit ersetzt. Geißendörfer veräußerlicht ihre Sehnsucht in traumhaften Bildern, die in ihrer Unwirklichkeit bittersüß den Eskapismus ausdrücken, dem wir im Kino ohnehin gerne verfallen; der die Wirklichkeit ausklammert und dennoch nie dagegen halten kann und soll.
Der Segen der Fantasie ist bei Geißendörfer ein hohes Gut; doch ebenso brutal zeichnet er die Isolation von der Realität: verbarrikadiert unter Jalousien. So wird Edith Opfer des Wahnsinns, wobei der Film einen Mittelweg zwischen Gesellschaftssatire und Melodram findet. Es wird sich nicht mehr wie beim „Zauberberg“ auskuriert, stattdessen gibt es Action im Haushalt: Pornos, Prügeleien und Kotze zwischen kargen Tapetenmustern und Marmorböden. Vielleicht hat „Ediths Tagebuch“ deswegen noch mehr Knalleffekt als einige Vorgängerwerke des Regisseurs. Nichts wird zurückgehalten, aber auch nicht auf die Spitze getrieben. Die Eskalationen sind prickelnd aufbereitete Schocks – objektiv von Michael Ballhaus’ Kamera eingefangen und dennoch nicht minder fassungslos. Eine moralische Wertung bleibt hingegen aus, Geißendörfer sieht in allen Entwicklungen den Gipfel und den Abgrund. Er beherrscht stets das Abwägen zwischen Sehnsucht und Realität, Genre und Identifikation, Mensch und Gesellschaft, selbst auf kleinstem Raum. Ambivalenz wird das Stichwort, aber so aufreibend, wie es auch jenseits der Leinwand keine klaren Linien gibt.
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