Aus hiesigen Landen kommt manch unterschätzter Veteran nur selten zu Ehren. Deshalb widmen wir uns dem Werk von Hans W. Geißendörfer in einer Retrospektive voller Filmschätze. Einer davon heißt „Marie“ und wurde uns von der Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Ein abgewrackter Flur, den einzelne Strahlen des Tageslichts in seiner Trostlosigkeit erleuchten, dazu eine schlichte Texttafel „Stuttgart, 1963“: So beginnt Hans W. Geißendörfers „Marie“ und bereitet uns auf eine Gefühlswelt vor, die hier ihre desolate Heimat findet. Gemessen an diesen Verhältnissen ist die junge Marie (Anna Martins) auch keine Person, die sich jedem anvertrauen kann, sie ist introvertiert und (aus gutem Grund) nicht schüchtern. Der Film respektiert das und hält sich von dramaturgischen Einfältigkeiten fern, um eine sehr eigene Charakterstudie zu vollziehen. Was um Marie passiert und wie es sich auflöst, ist bewusst beiläufiger Natur. Was in ihr passiert, hat Vorrang, muss aber nicht ausgesprochen werden. Psychologische Binsenweisheiten werden einem erspart, wie auch ein narratives Ziel oder ein emotionalisierender Score außen vor bleiben. Ein bisschen wie ein Vorgänger der Berliner Schule – in Stuttgart. Zunächst herrscht nämlich nur stiller Alltag zwischen Marie und ihrem Vater (Heinz Bennent). Getrennt von der Mutter (Maria Schell) lebend, akzeptieren sie das Wenigste zum Leben, solange die Unnahbarkeit, das Intime, zwischen einander geduldet wird.

Schule und Beruf laufen sowieso unabhängig voneinander; Marie übt sich in jugendlicher Unbedarftheit, aber größtenteils nur allein, während ihr Vater mehr oder weniger gut behütete Geheimnisse um sich schürt. Nicht, dass seine Tochter besonderen Wert darauf legen würde, diese herauszufinden – stattdessen legt sie Platten der Rockband Them auf. Man teilt sich höchstens die Beruhigungstropfen fürs Herz, doch seins macht nicht mehr lange mit. Auf seinen Tod lässt Marie nur wenig von ihrer Trauer durch. Man merkt jedoch, wie sie diese im Innern festhält und nur für wenige entscheidende Momente entlässt, nicht jedoch im Angesicht mit der eigenen Mutter. Sogar als sich mehr Mysterien um den Vater ringen und die Wohnung von Unbekannten besucht wird, bleibt Marie verschlossen; wie ein Eremit in der seelischen Nacht umherwandernd und in stiller Einsamkeit die kleinsten Eindrücke der Natur aufsammelnd. Oft verkriecht sie sich ins Bett und erlebt das Gefühl der Trennung am innigsten auf der Leinwand zu Marcel Carnés „Kinder des Olymp“, bevor sie die Nacht auf dem Feld neben dem Flughafen verbringt. Das Versagen in der Schule folgt auf schnellem Fuß. Und so lässt sie ihre Mutter doch um sich sorgen und in Englisch Nachhilfe geben.

Das hat allerdings mehr Absichten, als an der Oberfläche zu sehen sind. Ohne an dieser Stelle viel verraten zu wollen, hat es durchaus einen Grund, warum der Film anno 1963 spielt, also zu einer Zeit, in der die deutsche Vergangenheitsbewältigung noch weit schwieriger anzusprechen war. So hat es Marie am Beispiel ihrer Eltern gelernt, in einer Lethargie verwurzelt zu sein, die das Innere untereinander nicht auszusprechen vermag und stattdessen gemeinsam im Dunkeln verbleibt. Dysfunktionale Familiengeschichten als Stellvertreter nationalen Unvermögens sind im Regelfall Geißendörfers stärkstes Thema – und auch hier breitet sich der Schleier einer gläsernen Zelle aus. Diese begegnet dem Zuschauer aber mit einer Ungewissheit, die zwar auf einen logischen Schluss kommt, aber für den Großteil der Laufzeit emotionale wie narrative Eindeutigkeiten unterwandert. Schuld und Vergebung wollen zwar die Richtung lenken und Marie auf ihre Seite ziehen, doch jene einfachen Lösungen einer vergangenen Zeit sind für jene Generation kurz vor ’68 keine vertretbare Option mehr. Dasselbe gilt für diesen leider wahrscheinlich bis auf weiteres unerhältlichen Film, der sich dem Kalkül der Genügsamkeit entzieht und innere Verwüstung mit impressionistischem Selbstbewusstsein ausspielt.

Meinungen

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