Wie viele Filme können den wahren Zauber der Kindheit beherbergen und bei jeder Sichtung im Geiste des Zuschauers mühelos rekreieren? Leider kann man solche Exemplare wohl an nur einer Hand abzählen, aber dadurch mindert sich ihr Stellenwert ja keineswegs. Einer dieser beglückenden Ausnahmefälle ist Hayao Miyazakis relativ bekanntestes und beliebtestes Werk „Mein Nachbar Totoro“, seine Huldigung an das sommerliche Gemüt vergangener, unbedarfter Jahre – wo die Lust auf Entdeckung und der ungebändigte Glaube für die Fantasie an der dringlichen Tagesordnung unserer Erlebnis durstigen Kinderseele war. Da begleitet er uns nach den launigen Klängen seines ulkigen Bilderbuch-Vorspanns sodann in die ländliche Gemeinde Matsuo – blühend-frisch und unaufgeregt-einladend –, in welche unsere kleinen Protagonisten, die Schwestern Satsuki und Mei, mit ihrem Vater einziehen. Und sofort steht ihnen (und uns) die Begeisterung zum Auskundschaften der neuen Heimat im Auge, mit all ihren atemberaubend-schönen Natürlichkeiten und den durchweg zuvorkommenden, frohen Mitbürgern. Nachbarsjunge Kanta gibt sich da vielleicht noch etwas verhalten und lausbubenhaft, ist aber auch nur ein schüchterner Zeitgenosse und taut schließlich sowieso in seiner Hilfsbereitschaft auf.

Bis dahin reizt unsere Mädchen aber hauptsächlich das Neue, ihr schickes und geheimnisvolles Haus, umringt von gigantischen Bäumen und voll mit Ecken und Winkeln, die es stürmisch zu erforschen gilt. Und siehe da, schon zeigen sich die berüchtigten und scheuen Rußbolde, die sich hier einquartiert haben und blitzschnell durch die Mauern und Ritzen kraulen können. Da sagt man sich als erwachsener Zuschauer natürlich zunächst: Die gibt’s doch gar nicht! Aber zum einen befinden wir uns hier auf Zeichentrick-Terrain und zum anderen sieht Miyazaki diese, seine offenbar Realitäts gebundene und menschliche Welt wohlweislich mit den Augen der Kinder, denen sich solch eine wunderbare Magie (auch aus ihrem eigenen Wunschdenken heraus) viel eher öffnet, als der abgeklärten Mentalität älterer Menschen (siehe auch Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“). Besonders wichtig wiegt in diesem Fall aber, dass die Schutzbefohlenen von Satsuki und Mei nicht etwa sagen: alles Humbug. Nein, stattdessen bekräftigen sie die Kids und uns darin, an diese geheimen Wesen der Natur zu glauben, auch wenn sie selber nicht mehr den Blick dafür haben, aber sich ebenso an ihre gleichfalls traumhafte Kindheit erinnern können und wollen.

Und sicherlich brauchen sie auch diese Bekräftigung, dass jene ebenso hilfreichen Geister und Kreaturen des Waldes auf ihrer Seite sind, liegt ihre Mutter doch mit einer nicht näher definierten Krankheit im Krankenhaus und braucht noch einige Wochen zur lang erwarteten Genesung. Miyazaki spricht da aus Erfahrung und arbeitet erneut, wie es bei ihm üblich ist, autobiografische Züge seiner Kindheit ein, verbrachte seine eigene Mutter doch ganze neun Jahre im Krankenhaus wegen spinaler Tuberkulose. Satsuki und Mei können es verständlicherweise kaum abwarten, dass sie wieder gesund nach Hause kommt und das treibt im Verlauf des Films die dramaturgischen Stärken seinerseits an. Vorher aber steht die Schönheit des Lebens im Fokus, allen voran wie gesagt die Entdeckungslust, welche dazu führt, dass unsere Schwestern den sanften (metaphysischen?) und äußerst kuscheligen Riesen Totoro, den sie bereits aus einem ihrer Bilderbücher kennen, in den Tiefen des Waldes vorfinden. Bezeichnenderweise wurde er danach auch zum Maskottchen von Miyazakis Studio Ghibli. Er ist zudem der Inbegriff von Karma, in diesem Narrativ ausschließlich auf der guten Seite wirkend.

Da entwickelt sich jene folgende Reihe an beeinflussenden Nettigkeiten, die seine wundersame Funktion so beglückend für Jung und Alt macht: Auf dem Nachhauseweg von der Schule geraten Satsuki und Mei in einen starken Regenfall, Kanta kommt jedoch zufällig vorbei und entschließt sich, den beiden seinen Regenschirm zu überlassen, woraufhin diese zuhause angekommen ihre eigenen mitnehmen und sich bei Kantas Familie bedanken – denn bei einer Bushaltestelle warten sie auf die Heimkehr ihres Vaters, wobei aber auch Totoro, lediglich mit einem kleinen Blatt überm Kopf, vorbeikommt. Die zwei überlassen ihm deshalb einen ihrer Regenschirme, er freut sich tierisch darauf, die Regentropfen darauf nun prasseln hören zu können und überreicht ihnen dafür ein Paket mit Nüssen und Eicheln, welche sie auch voller Erwartung anpflanzen und mehrere Tage warten, bis Totoro mit seinen Freunden die Saat in ungeahnte, waldige Höhen sprießen lässt und die Mädels auch auf einen sagenhaften, glückseligen Flug über ganz Matsuo einlädt. Dass die Saat in Wirklichkeit nur ein bisschen gesprossen ist, ist letztendlich unerheblich – vielmehr ist der Enthusiasmus für die Fantasie, basierend auf dem Frohsinn der Zwischenmenschlichkeit und Naturverbundenheit, das einzig Wahrhaftige und eine Belohnung für beide Seiten der Leinwand, sowohl visuell, emotional und natürlich auch akustisch (mit einem von Grund auf liebenswerten Score von Joe Hisaishi).

Doch irgendwann ist der Drang nach der eigenen Mutter (wie gewöhnlich bei Kindern und auch Erwachsenen) so groß, erst recht wenn man das kindliche Glück mit ihr teilen will, dass Frustration einsetzt. So macht sich die kleine Mei – nach einem Streit mit ihrer ebenfalls traurigen Schwester dem Fehlen der Mutter wegen – fluchtartig auf den Weg zu ihr, mit frischem Maiskolben im Arm, von dem sie hofft, dass ihre Mutter damit wieder schnell gesund wird. Doch hier schlägt die Offenheit der Umgebung von Entdeckungslust in Verlorenheit um. Jeder macht sich Sorgen und hilft bei der Suche, aber es ist trotzdem alles zum Heulen, denn die Unschuld und Sicherheit des Kind-Seins ist in Gefahr. Doch eben der Glaube daran und Satsukis Liebe beschwören erneut Totoro zur bedingungslosen Hilfe herauf, der uns alle mit seinem fliegenden Katzenbus wiedervereinigt und nun die Herzen komplett aufblühen lässt.

Miyazaki verzaubert uns vollends mit menschlicher Güte, dem hoffentlich ewig währenden Geist kindlicher Unbekümmertheit und glücklicher Euphorie – eröffnet uns die Natur als mythologischen, belohnenden Verbündeten der Seele und erklärt dieses fantastische Weltgefüge liebevoll zum Grundstein für einen puren, brillant-leuchtenden Optimismus. Da hat Zynismus keinen Platz, wird durch die ungebändigte Luminanz und Drolligkeit des Settings und seiner Figuren ohnehin blitzschnell entwaffnet. Man kann einfach nicht anders, als sich wohlzufühlen und von der empathischen Glorie des alltäglichen Zaubers überwältigt zu sein. Deshalb ist ein Besuch bei Totoro schon fast ein regelrechter Urlaub – wenn Menschen (und Fabelwesen) so gut zueinander sein können, will man einfach nicht von dieser Märchenwelt weichen. Und Miyazaki setzt das zudem bewusst in einer idealisierten, doch äußerst persönlichen und dreidimensional- nuancierten Variante unserer Welt in Zeichentrickform an, dass wir uns dort wiedererkennen und somit den Traum dieses Films, die Kraft der Kindheit, zwangsläufig in unsere Realität mit hinübertragen wollen. Das Leben ist schön – und Miyazaki ein humanistischer Großmeister.

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