Irgendwo in Maine, Neuengland: Das Gras stinkt – und die Menschen ebenso. Olive Kitteridge – zynisch, ausrangiert, unbequem – ist sich dessen sicher. Nein, denkt sie, das Amerika der Superlative findet sich hier nicht. Nur Sklaverei, Theatralik, Fernsehen, Alkohol. Und Menschen. Tumbe, ätzende, greise Menschen, die es wagen, ihr hie und da nahezukommen. Aber nicht mit ihr. Nicht mit dieser herrischen Schabracke, als die sie sich im Dorfgrauen präsentiert. Doch wenn Lisa Cholodenko ein Auge auf sie wirft, ist sie vor allem: ein quäkender Esel, der eine Wahrheit spricht, welcher sich niemand sonst berufen fühlt. Vier Stunden lang. Vier splitternde, kleinspurige, autistische, rastlose, organische Stunden lang. Über die eines mit Sicherheit geschrieben werden sollte: „Olive Kitteridge“ ist Fernsehen ohne Samthandschuhe – aber mit Pulverfass. Ein straffes Juwel, das wie eine kleine Familiengeschichte im Jux beginnt und in Tollerei endet. Über eine Heroine aus einem Groschenroman, der falsch, kalkuliert, doch in Wehmut zusammengesetzt wurde. In dem der Schalk im Nacken jederzeit um die Straßenecken aus Backstein blitzt.
Eine Wahrheit über jene vier Stunden formulierte Frances McDormand, die Mimin der atypischen Protagonistin, auf den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig: Vier Stunden, besser sechs oder gleich zehn, bräuchte man, um weibliche Geschichten zu erzählen. Denn diese seien zirkulär, komplex – und dauerten länger als neunzig Minuten. Doch wie eine weibliche Geschichte erzählen? Wie den Zuschauer fesseln, ihn locken, entmündigen, frisieren? Vor allem wie mit einer Stimme, die kratzt, drängt, hetzt, wütet? Aber auch liebkost, amüsiert, schweigt? Die Welt Olive Kitteridges ist nicht nur eine Story, sie ist nicht faltenfrei, makellos oder konsequent. Wenn Frances McDormand also von Geschichten spricht, welche nicht in neunzig Minuten eingepfercht werden können, dann meint sie: Geschichten, die leben. Dafür trägt ihre Olive flache Schuhe, bäuerliche, erdige Kleider, keine Schminke, schert sich weder um Glamour noch um eine Dauerwelle oder Haartönung. Die Maskerade ist sie selbst – und die Maskerade brennt sich in ihre Umgebung, ihren fürchterlich sanftmütigen, liebenden Mann Henry (Richard Jenkins) und ihren hadernden, empfindsamen Sohn Christopher (erst Devin Druid, später John Gallagher Jr.). Olive ist keine Mimose, keine freundliche Dame, keine Frau, in die sich leicht zu verlieben wäre. Und doch liebt Lisa Cholodenko sie. Bedingungslos. Ohne Taschentuch, ohne Tränen. Und es ist großartig.
„It baffles me, this world“, sagt Olive folgerichtig am Ende, als bereits alles hernieder liegt und sie sich fragt, was nun noch werden soll. Es ist in diesem schließenden, sanften Augenblick, da Cholodenko ihrer Schutzgöttin der Depressiven Gnade zugesteht – und ein tiefes Verständnis für sich und ihre Fehler. Diese zittrige Assemblage aus Kleinst- und Minimalstgeschichten, die über fünfundzwanzig Jahre spannen, hält nicht viel von Größenwahn oder waghalsigen Tricks. Sondern viel von seiner Zimtzicke Olive Kitteridge, ihrem peinigenden Sinn für Humor, ihrer törichten Ehrlichkeit und gnadenlosen Hingabe. Eines aber stellt Lisa Cholodenko in vier Stunden insbesondere fest: Wenn wir Olive ernsthaft als fürchterliche, misanthrope Figur missverstehen, haben wir bislang an der Realität vorbeigeblickt. Und an abervielen, sehnsüchtigen, weiblichen Geschichten, welche schon immer länger als neunzig Minuten dauerten. Grund genug, Lisa Cholodenkos „Olive Kitteridge“ vier Stunden zu opfern – und daran zu wachsen.
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