Jayden sitzt ganz allein auf einem Sofa im Gruppenraum. Sie ist nervös, ritzt sich Wunden mit den Fingernägeln in ihre Arme. Neben ihr steht der gepackte Rucksack. Sie möchte weg hier, aus diesem Heim für schwer erziehbare Kinder. Ein paar Stunden mit der Familie, mit ihrem Vater. Denn schließlich ist es ihr Geburtstag und den möchte sie am liebsten mit ihrem Dad verbringen – und nicht in diesem Heim voller Loser. Sie wartet und wartet und wartet. Immer wieder blickt die Betreuerin Grace zu ihr herüber, ist besorgt und ahnt bereits, was geschehen wird. Natürlich kommt der Vater nicht. Jayden bricht in sich zusammen, stürmt wütend aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Alles eskaliert. Nur Grace kann sie langsam wieder beruhigen. In Ruhe, weit weg von allen, stellen beide fest, dass sie sich ähnlicher sind, als sie jemals geahnt hatten.
„Short Term 12“ gewann 2013 auf dem SXSW Film Festival den Großen Preis der Jury sowie den Publikumspreis. Bereits vier Jahre zuvor feierte das Indie-Drama von Destin Cretton in verkürzter Form seine Premiere und wurde auf dem Sundance Film Festival als bester Kurzfilm ausgezeichnet. Trotz des enormen Erfolgs und den sehr positiven Kritiken fand das Drama lange keinen Verleih in Deutschland. Ende September erscheint es jedoch nun endlich auch hier auf DVD und Blu-ray. An was mag es liegen, dass sich Indie-Filme wie dieser jenseits des Atlantiks oft schwer tun? Sind sie oft austauschbar – oder gibt es von ihnen gar zu viele? Oder fehlt vielleicht schlicht das Publikum? Fragen, die es sich zu stellen lohnt und dennoch schwer zu beantworten sind. Stattdessen können wir uns glücklich schätzen, dass Festivals eine immer größere Rolle spielen und diesen Filmen eine internationale Plattform bieten können. So kann man sie dann wenigstens im Heimkino genießen.
Vielleicht ist diese Variante sogar die passendere für „Short Term 12“, das intensivere Erlebnis. Denn Crettons Film ist ein intimes Drama, das sein Umfeld nicht von außen zu betrachten sucht, sondern von innen heraus. Der Blick wird langsam von Zimmer zu Zimmer gelenkt. Jede Figur wird Raum und Zeit eingeräumt. So beobachten wir Marcus dabei, wie er versucht, seinen 18. Geburtstag zu verarbeiten. Wut und Aggression stecken tief in ihm. Immer wieder kann er seine Emotionen nicht kontrollieren, sie strömen einfach aus ihm heraus. Dabei verletzt er seine Mitmenschen, obwohl er das gar nicht möchte. Eigentlich ist er ein schüchterner Junge, der mit seinen Gefühlen nicht klarkommt. Deshalb schreibt er Rap-Songs, die er dann seinen Mitbewohnern und Betreuern vorträgt. Auf einmal hat er ein Lächeln im Gesicht und fühlt sich wohl, vielleicht sogar akzeptiert. Grace und Mason sind dabei die zwei wichtigsten Figuren. Sie sind das Herz dieses Heims. Selbst in schwierigen Umständen aufgewachsen, wissen sie genau, was diese Teenager durchmachen.
Während sich „Short Term 12“ größtenteils innerhalb des Heims abspielt, werden Grace und Mason schnell zu den beiden Protagonisten. Sie sind nicht nur die Betreuer von diesen Jugendlichen, sondern auch ein (heimliches) Liebespaar. Sie machen alles zusammen. Sie arbeiten und leben zusammen, verbringen den ganzen Tag miteinander. Das wird den beiden zu viel – vor allem Grace, die noch mit dem ein oder anderen eigenen Problem zu kämpfen hat. Auch sie hat eine extrem schwierige Beziehung zu ihrem Vater, was sie mit Jayden verbindet. Die beiden können miteinander reden, finden schnell einen Draht zueinander. Dennoch wirft der Kontakt mit Jayden einige Fragen wieder auf, die Grace schon längst verdrängt hatte. Sie muss sich wieder mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen – und dann soll ihr Vater auch noch aus dem Gefängnis entlassen werden. Das ist allerdings nicht genug: Jetzt ist sie auch noch schwanger …
Auf den ersten Blick mag der Plot von „Short Term 12“ ein wenig vorhersehbar oder gar übertrieben wirken: Das Setting ist ein Haus voller Trouble kids; diese Troubled kids haben dann natürlich Betreuer, die selbst einmal Problemfälle waren; die beiden sind dann auch noch ein Paar und bekommen ein Baby. Allerdings schafft Destin Cretton einen besonderen Zugang zu dieser Thematik: Der Film entstand aus einer eigenen Erfahrung heraus. Er selbst arbeitete eine Zeit lang in einem Heim. Dadurch gelingt ihm dieser intime Blick auf die Kids, ihre Betreuer und das ganze Milieu. Immer auf gleicher Augenhöhe, ohne Dinge zu bewerten oder zu beschönigen. Doch sind es vor allem Brie Larson als Grace und John Gallagher Jr. als Mason, die den Film tragen. Subtil und dynamisch zugleich. Sie halten das Heim zusammen, geben den Jugendlichen Halt und eine Familie, während ihre eigene Beziehung zu scheitern droht.
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