Gefühlt hundert Verfilmungen des „Heidi“-Stoffes aus der Feder von Johanna Spyri später schafft es wieder eine auf die Leinwand, die sich dort wirklich sehen lassen kann. Regisseur Alain Gsponers Adaption bringt die Geschichte des Waisenkinds Heidi (Anuk Steffen) im technischen Sinne auf modernen State of the Art und erzählt zudem mit einem Ansporn, der über die Anforderungen eines bloßen Kinderfilms hinausgeht und als Charakterdrama funktionieren dürfte. Einige Anzeichen schmälern besonders zu Anfang noch dieses Potenzial. Als Heidi von ihrer selbstgefälligen Tante beim Großvater Alpöhi (Bruno Ganz) untergebracht wird, ist ihre Naturverliebtheit so fix etabliert, wie auch der Wandel des Alpöhis vonstattengeht, der zunächst nichts von seiner Enkelin wissen will, bald aber nicht mehr ohne sie auskommen kann. Beachtlich wirkt im Gegenzug allerdings, wie offen und ehrlich der Film sich einer nicht einfachen Figur wie dem Alpöhi widmet, der aus einer vermeintlichen Schuld heraus die Menschen meidet und umso ehrgeiziger die reine Unschuld vor der Außenwelt verteidigt. Heidi ist in jener Funktion zwar auch das Ventil für Euphorie und Spaß in der Natur, aber genauso wenig Karikatur wie ihr Alpöhi.
Ohnehin spielt der Film stimmig seine Thematik aus und macht sich ein eigenes Bild, anstatt behaupteter Meinungen zu folgen. Ab und an wird es direkt ausgesprochen, damit die Zielgruppe es ganz genau versteht, oftmals zeigt und entwickelt sich dies aber auch durch die Handlung an sich, bei der ein Kind von einer Gesellschaft zur nächsten gereicht wird, sich eingliedern und dennoch selbst gegenüber treu bleiben muss. Schwieriges dramaturgisches Gut wie Identität, Anpassung, Entwurzelung und Empathie kommen hier mit einer Leichtigkeit zur Geltung, die schnell vermittelt, aber nicht vortäuscht. Ein bisschen zu eindeutig spielt dabei allerdings die Musik von Niki Reiser die Emotionen der jeweiligen Szenarien aus, obwohl diese schon in Bild und Schauspiel treffend ankommen. Manchmal kaschiert sie aber auch die vom Schnitt komprimierte Etablierung der Charaktere, während die Optik mehr Raum zur Reflexion anbieten würde und ohnehin ein naturalistisches Flair verbreitet. So kommt der Film zwar der Erzählung, aber nur bedingt seinem Ensemble entgegen.
Intensiver gestaltet sich erst der Hauptteil um Heidis Ankunft im erhabenen Hause der Familie Sesemann in Frankfurt. Dort wird dem Zuschauer angemessen Heidis innere Gefangenschaft vermittelt, die sich aus Kinderaugensicht zahlreichen Maßregelungen der Gouvernante Rottenmeier ausgesetzt sieht und in kindlicher Naivität die Berge sehen möchte, die nicht einmal vom Kirchturm der Stadt erblickt werden können. Schon als Kontrast in diese Behausung hineingeboren und zudem an den Rollstuhl gefesselt, sehnt sich die Tochter der Sesemanns, Klara, ebenso nach einer Freiheit, die der permanenten Manierlichkeit entgehen will und an der Freundschaft zu Heidi festhält, wie es schon der Alpöhi tat und gleichermaßen gescheitert ist. Aber nicht alles ist schlimm an diesem Haushalt – und der Film findet genug Momente, um dem Geist der Kindlichkeit niedlich und aufrichtig gerecht zu werden, Spielspaß und Freundschaft zu integrieren. Eine komplette Vereinigung kann aber nicht gelingen, wenn das Gefängnis des Standes seine unbarmherzige Strenge ausschlägt und abschottet (man fragt sich, was ein Hans W. Geißendörfer hieraus gemacht hätte).
Wer von der alteingesessenen Geschichte Heidis weiß, braucht keine Überraschungen im Verlauf erwarten. Aus den Augen der jüngsten Generation jedoch, oder als Einsteiger im Erwachsenalter, entwickelt sich eine ernsthaft ausgearbeitete Erzählung, die erdrücken und beglücken kann, ohne zu überfordern oder gänzlich zu verharmlosen. Letzteres ist in leichter Tendenz präsent, gegen Ende hin unter Umständen auch mit (Heimat-)Kitsch unterfüttert. Gsponer setzt seinem Film dort einer Überakzentuierung aus, die ihrer Zielgruppe zu wenig zutraut, obwohl sie sich längst in der Perspektive wiederfinden dürfte. Wenn er aber von diesem Kompromiss ablässt, glänzt „Heidi“ als einfühlsames Porträt, das einfach scheint, aber beileibe nicht einfach als Kinderkram zu unterminieren ist.
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Bisherige Meinungen
Mit Interesse habe ich diesen Artikel von Ihnen mit der Kritk zu ‚Heidi‘ gelesen. Meine Kartenvorbestellung in unserem Kino für den Film, mit meinen zwei Kindern, bin ich gerade am hinterfragen. Meine Tochter ist (erst)4 der Junge ist 6. Kann ich insbes. der Kleinen den Film zumuten? Danke für eine kurze Einschätzung! Grüße, Jürgen Tappe
Lieber Herr Tappe, so wie ich den Film eingeschätzt habe, wird er für derartig junge Kinder keine überfordernde Erfahrung darstellen. Die Dramaturgie bleibt dem kindlichen Geist angemessen und bringt eher Verständnis bei, als dass Furcht vermittelt wird. Gerade in der zweiten Hälfte kommt das am ehesten zu tragen, auch wenn die Antagonisten zwar mit Worten verletzen, aber noch lange keine Monster abgeben. Genug erheiternde oder umsorgende Abwechslung ist ohnehin gegeben. Emotional hat der Film dennoch einiges aufzubieten, aber nichts, was man einem Kind nicht zumuten könnte – im Gegenteil: Freundschaft, Zuneigung und Empathie stehen hier im Fokus und weisen auch moralisch eine gute Richtung zur individuellen oder auch gemeinsam bewirkten Selbsterfüllung. Grüße, Christian Witte