72 Stufen ging Rocky Balboa einst in Richtung des Philadelphia Museum of Art hinauf und reckte, in einer gleichsam heroischen wie auch für die Charakter- und Filmentwicklung ikonischen Szene, die Hände in die Luft. Jetzt, am Ende desselben Jahrtausends, beschreitet Rocky gemeinsam mit seinem Schützling Adonis „Donnie“ Creed dieselben Treppenstufen. Von Rockys einstiger Vitalität ist nichts mehr zu sehen. Schnaufend und leidend, sich stets an Creeds Schulter abstützend, quält er sich die „Rocky-Stufen“ hinauf. Doch anstatt in Erinnerung an sein eigenes Schaffen und seinen Erfolg zurückzublicken, setzt er seinen Fokus auf Donnie und schaut auf die Skyline Philadelphias hinab und markiert den Anfang von etwas Neuem.

Wenn eine nach sechs Teilen und über mehrere Jahrzehnte andauernde Filmsaga sich zu einer solch geschichtsträchtigen und wegweisenden Ikone im Sportfilm entwickelt, verliert selbst ein alternder und mit der Zeit ebenso verwahrloster Sylvester Stallone die Muße an seinem Steckenpferd. Wie Rocky Balboa einst begann, als kleiner Niemand, so endet er auch. In Analogie zu seiner eigenen Biografie baut Stallone das Konstrukt eines typischen Helden, der vom Niemand zum Star wird. Doch irgendwann, nach Jahren des Ruhmes, wenn auch noch die Ikone des Boxsports, aber nicht mehr als ein Name, hat er sich selbst vergessen und überlässt das Feld jenen Jungen, die versuchen, den Kampfsport neu zu definieren. Anders als zu Rockys Zeiten sind die Kämpfer keine Vorbilder und Aufsteiger mehr. Hintergründe sind verblasste Nebensächlichkeiten, die nur dann interessant werden, wenn sie auf einmal Bezug zum alten Eisen bekommen. Donnie Creed, Sohn des verstorbenen, ehemaligen Widersachers Apollo Creed, bleibt für viele nur ein uninspirierter, wenn auch talentierter Neuling. Durch seine Herkunft wird er auf einmal auch für das Publikum interessant.

Obwohl die Geschichte Rockys und das dahinterstehende Universum längst mit „Rocky Balboa“ 2006 sein Ende fand, sieht Regisseur Ryan Coogler Potenzial, die Geschichte weiterzuführen. Dass er hierbei meistens auf eine Nacherzählung der vorangegangenen Filme verzichtet, zeichnet „Creed – Rocky’s Legacy“ zumindest als meist autonomes, wenn auch auf Vergangenem aufbauendes Sujet aus. Donnie Creed ist kein wirtschaftlicher Niemand, sondern ein Ausbrecher, das exemplarische Gegenteil Rockys seinerzeit. Ein Vergleich zum Vorherigen drängt sich zwangsläufig auf, da Rocky selbst als dezentral agierender Charakter oft in den Mittelpunkt gerückt wird und sich auf seine alten Tage und im Ruhm seiner Vergangenheit suhlen darf. Obgleich er selbst keinen Vorteil aus seiner Vergangenheit zieht, bekommt der Außenstehende die Perfektion eines Rockys um die Ohren gehauen, als sei er der Protagonist des Films. Creed selbst bleibt ein Abziehbild eines stillen Rebellen. Liebesgeschichte, Erfolg, Ehrgeiz – der Hintergrund Creeds ist gleichermaßen uninspiriert wie narrativ einseitig. Wenn ein Sylvester Stallone der Höhepunkt und Wegweiser eines Films ist, zeichnet das den Umfang eines missglückten, wenn auch manchmal ambitioniert anmutenden Drehbuchs aus.

Man könne plakativ grölen, es handle sich um eine modernisierte Version Rockys, mit angepassten Eigenschaften an Zeitrahmen und den geschichtlichen Kontext. Seine Modernisierung des Franchise formatiert Coogler aber nicht auf narrativer Ebene, sondern allein auf dem technisch-formellen Ehrgeiz der Bildgestaltung. Kamerafrau Maryse Alberti (die zuvor bereits mit „The Wrestler“ Kampfsportfilmerfahrung gesammelt hat) akzentuiert zwischen der rauen Physis des Kampfes und der stilvollen Eleganz elegischer Behäbigkeit die Kämpfer selbst. In einem One Take filmt Alberti den ersten offiziellen Kampf Creeds in eigenartiger Intimität zu den Kämpfenden. Den Ring niemals verlassend, tänzelt die Kamera um Michael B. Jordan herum, folgt den austeilenden und einsteckenden Faustschlägen. Der Kampf selbst ist kein distanziertes Sportereignis in den großen Sporthallen globaler Medienpräsenz, sondern ein Charakter entwickelndes Soziogramm der umherfliegenden Fäuste und derer Besitzer. Innerhalb des Rings entwickeln sich Protagonist und Film, während die einseitigen und bereits mehrfach ausdiskutierten Schüler-Lehrer-Beziehungen uninteressant wirken.

Ryan Coogler scheint sich nicht entscheiden zu können, ob er nun eigenständig oder doch in Verneigung und Rückbesinnung seiner filmischen Väter agieren soll. Der verblichen-einseitige Horizont, fixiert auf die Heroisierung Rockys, verloren in der Unsicherheit der Darstellung seines Protagonisten, gerade dazu bereit, ihn als Produkt zweier Legenden zu charakterisieren. Obgleich Stallone seine physische Präsenz alter Tage in keinerlei Art und Weise zurückholt, ist er als alter, gebrechlicher Mann überzeugender als jemals zuvor. Es genügen scheue Blicke und das tiefe Brummen eines alten Stieres, um das auszudrücken, was ihm sonst viel zu selten gelingt. „Creed – Rocky’s Legacy“ ist ein makelloser Werbespot einer vergangenen Legende, aber leider viel zu selten ein Boxerdrama, das seine Essenz auch außerhalb des Rings formulieren kann. Obgleich vollkommen losgelöst von der maskulinen Härte eines „Rocky“ funktioniert „Creed“ als modernes Aufsteigerdrama vor allem visuell, die Kamera ist ständiger Begleiter im Ring und außerhalb, wenn auch hier zurückhaltender und desinteressierter, sodass die eigentlichen Hintergründe zwischen Mensch und Kämpfer nebelhaft bleiben.

Meinungen

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