Anm. d. A.: Mangels eines geschlechtsneutralen Pronomens in der deutschen Sprache greift der Autor auf das generische Maskulinum zurück.

Der Mensch ist in Folge seiner Sexualität in Gruppen eingeteilt. Es gibt Frauen und Männer: Doch was ist, wenn man von beiden Seiten etwas vererbt bekommen hat? Es gibt hetero- und homosexuelle Frauen und Männer: Doch was ist, wenn man nicht genau sagen kann, was man eigentlich ist und die Entscheidung für sich selbst schier unmöglich ist?

Im argentinischen Film „XXY“ ist Alex (Inés Efron) intersexuell und wurde bei der Geburt ohne chirurgische Operation mit beiden Genitalien in die Welt gesetzt, aber als Mädchen erzogen. Als er mit fünfzehn Jahren merkt, dass die täglich verabreichte Medizin eine bewusste Unterdrückung männlicher Hormonausschüttung ist, lässt er seinen Schwankungen freien Lauf und verzichtet auf die regulierenden Arzneien. Der Vater ist leidenschaftlicher Biologe und sieht in Alex ein Wunder der Natur, das er so gut behüten will, wie es nur geht. Dieser väterliche Schutz ist zwar immer präsent, er reicht jedoch nicht aus, um das Kind vor jeglicher Gefahr zu bewahren. Denn die Gesellschaft – die normalen Menschen – sehen kein Wunder im Abnormalen, sondern entweder eine belächelte Attraktion oder auf despektierliche Art und Weise eine minderwertige Form des Lebens, die es zu bekämpfen gilt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Bekannte von Alex seiner Mutter glaubt, ein weibliches Dasein sei besser als ein intersexuelles, ohne Berücksichtigung Alex’ seiner Empfindung.

Lucía Puenzo fädelt geschickt und authentisch Konflikte ein, als wäre Alex’ Suche nach Identität nicht schon schwierig genug. So beginnt er im Zuge seiner Maskulinisierung auch seinen Trieben als männliches Dasein nachzugehen. Der Zuschauer wird in die Irre geführt, da dieser innere Konflikt dadurch verstärkt wird, dass der möglicherweise homosexuelle Alvaro, der Sohn der Bekannten, mit ihm schläft. Diese komplexe Situation ist schwer nachzuempfinden. Dennoch schafft es Puenzo diese beeindruckend in Bilder zu fassen.

Alvaros Vater ist Chirurg und soll Alex eventuell behandeln, was dem Wunsch der Mutter entspricht. Doch nicht immer ist ein Wunsch das Beste und vor allem Dingen nicht das Möglichste. Alex weigert sich nämlich auf operativer Ebene umgestaltet zu werden und findet vielmehr in seinem Wesen einen Funken Hoffnung, angetrieben von seiner Einzigartigkeit, dem Wunder des Lebens. So ist auch der äußere Konflikt dieser androgynen Figur immer ein Wechselbad der Gefühle. Mal schämt er sich heulend, mal ist er aggressiv und dominant. Inés Efron spielt diesen schwierigen Charakter enorm realistisch und kann sowohl die männlichen als auch weiblichen Attribute in ihr Spiel aufnehmen. Doch auch Ricardo Darín als Vater und Martín Piroyansky als Alvaro beleben die tristen, uruguayischen Landschaften am immer gleich bleibenden Meer, dessen Endlosigkeit in romantischem Eskapismus eine mögliche Erlösung all der siedenden Probleme liefert. Alex selbst vergleicht sich indirekt mit einer verletzten Schildkröte, die zwar weiterlebt, aber nie wieder frei im Meer leben kann. Diese aufgezwungene Determination ist das Grundübel des modernen als auch alten Gesellschaftsideals, das Individuen ohne Schubladencharakter in gerade diese pressen will.

Auch aus psychologischer Sicht ist „XXY“ interessant, da man sich als Zuschauer oft die Frage stellt, in was für einer Beziehung denn diese beiden Jugendlichen Alvaro und Alex zueinanderstehen. Beide suchen nach sich selbst, ihrem statischen, elementaren Kern, nicht nach dem dynamischen Durcheinander sexueller Tendenzen. Beide können aufgrund einander mehr über sich selbst erfahren. Alvaros Sexualität ist genauso schwierig einzuordnen wie die von Alex, was zeigt, dass nicht nur die Genitalien und die Hormone eine Rolle spielen müssen, sondern auch die im Anderen entdeckte Attraktivität des Wesens. Gleichzeitig ist es eine liberale Betrachtung von der Beziehung zweier suchender Menschen im Allgemeinen. Daraus folgt, dass eine Beziehung nicht durch Liebe, sondern durch Egoismus und den Trieb zur Selbstreflexion entstehen kann.

„XXY“ ist ein kühler Film, der sich in den meisten Charakteren und der konfliktreichen Handlung erwärmt. Nicht immer jedoch gelingt es Luciá Puenzo, die volle Saat aus ihren Feldern zu ernten. So gibt es Szenen, in denen sehr viel stumm nachgedacht wird, doch weiß der Zuschauer kaum, wozu dies gezeigt wird. Einige Figuren bleiben blass und scheinen kaum eine wichtige Bedeutung zu tragen: Alvaros Eltern sowie die Mutter von Alex verlieren an Wichtigkeit und fallen eher negativ ins Gewicht. Das Ende im Sinne eines abrupten, separierenden Verschwindens aus dieser Welt der permanenten Suche wirkt wenig zufriedenstellend, auch wenn die abschließende Akzeptanz der eigenen Intersexualität in all ihrer Gänze suggeriert wird.

Meinungen

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