„Was ist Filmemachen anderes, als im Dunkeln zu fummeln?“, fragte der amerikanische Regisseur Alexander Payne einmal. Nicht nur deswegen widmete das Filmfest München ihm heuer eine Retrospektive. Und wir nun ebenso.
Neun Monate Glück. Neun Monate fleischiges, behagliches, warmes, isoliertes Glück. Doch dann: Ärzte, Schläuche, Klemmen. Ein Mann sagt zu einer Frau: Hast du es? Sie hat es nicht. Und Martin – neun glückliche Monate alt – platscht auf den Boden, die Nabelschnur wie nach einem Bungeesprung gespannt. Das war es fortan mit dem Glück. Einst unendlich beneidenswert, ist Martin (Charley Hayward) nun freudlos, elend und melancholisch. Um als Fotograf einen brillanten Schnappschuss zu erhaschen, ängstigt er seine Mitmenschen zur Flucht und erfreut sich ihrer grenzenlosen Panik. Ob diese Lust am Masochismus aus seiner Kindheit rührt? Von seinem Vater, dessen Asche er letztlich im Klo herunterspült? Von seiner Mutter, die ihm in Folge das animalische, Grünzeug fressende Selbst des Menschen offenbart? Fakt ist: „The Passion of Martin“ meint es nicht gut mit der Leidenschaft des Titel gebenden Martin, dem es nach der wahren Liebe zwischen Mann und Frau dürstet. Für Alexander Payne jedoch kein Grund zur Misanthropie. Denn sein Fünfzigminüter, mit dem er 1990 das Studium an der UCLA abschloss und einen Master der Bildenden Künste erlangte, liebt die Menschen durchaus. Nur Martin im Speziellen nicht. Beziehungsweise nur in Maßen.
„The Passion of Martin“ nämlich badet bereits in jenen miserablen Nichtexistenzen, die sein Regisseur mit Budget, Studio und manchmal Oscar-prämierten Schauspielern über die folgenden Jahre expliziter studieren sollte. Martin, der wütende Stalker, Philosoph und Lyriker mit athletischem Körper und Jogginghose, spaziert in ein Œuvre, ohne sich ihm zugehörig zu fühlen. Der spätere Stil aber, den Payne insbesondere rigoros in „Election“ präsentiert, platzt in diesem Vorspiel schon aus allen Nähten. Irgendwo zwischen David Lynch und Charlie Chaplin, schwarzer Komödie und unreifem Drama, Voice-over und Bildersammelsurien, die fortwährend als harte Wahrheitsbrocken aufblitzen. Alles wirkt noch lose, fahrlässig, teils redundant, spießig. Oder ab der Norm? Im Kern paddelt Martin jedoch wie Warren Schmidt oder Miles Raymond im Fahrwasser der großen (nicht nur) amerikanischen Depression, die bis heute reicht und niemand wahrhaben möchte. Die Depression lautet: Der Mensch kann nicht mit anderen Menschen; nicht einmal mit sich selbst. Als Martin nach einer Ausstellung Rebecca (Lisa Zane) kennenlernt, wirft er diese Erkenntnis allerdings über Bord. Oh, die Schmetterlinge im Bauch! Wie widerstehen? Warum nicht lieben, für immer und ewig?
Ernesto Sábatos Roman „Der Tunnel“ habe Alexander Payne die irrationale, zerstörerische Reise seines Protagonisten in den Schlund einer Beziehung entnommen. Vor allem aber den Wahn, die Hirngespinste, das wirre Potpourri an Störgeräuschen, die durch Martins Gedanken poltern. Schläft sie, seine Rebecca, mit diesem körperlich beeinträchtigten, schleimigen Typen? Liebt sie ihn denn nicht? Und nur ihn? Martin begehrt mit blinder Tollwut. Ein Treffen mit Rebecca, eine Nacht mit ihr, und alles geht in Flammen auf. Die Frau beileibe sieht das anders. Und hat Pech. Denn Martins Liebe ringt ihr Hadern nieder. „Blinzle, wenn du mich liebst, Schatz“, sagt er schließlich. Aber sie blinzelt nicht – und Martin nimmt es ihr nicht übel. Schließlich werden sie füreinander da sein. Selbst ohne Hochzeit, Blaskapelle, quäkende Singvögel. Auch das ist Liebe: wenn der andere sich nicht mehr wehren kann.
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