Eine Kontroverse, zwei Meinungen. Daher besprechen wir Wally Pfisters „Transcendence“ mit Johnny Depp gleich doppelt. Die zumindest durchschnittliche Zweitkritik findet sich hier.

Was macht den Mensch zum Menschen? Was lässt ihn fühlen, verstehen, handeln? Gleichwohl: Ist derjenige – ob nun Subjekt, Wesen, höhere Macht – ein Mensch, nur weil er fühlt, versteht, handelt? Wächst ihm die biologisch imprägnierte, äußerst beschränkte Intelligenz über die eigene Unvollkommenheit hinaus oder hungert er sich an ihrer zu Tode und strebt nach einer künstlichen Befreiung seines Geistes? Debütant Wally Pfister meint, all jene Frage zu stellen, meint, ein Mensch funktioniere ebenso als Mensch, wenn er in ein Elektronenhirn importiert würde. Vielleicht aber kollabiert „Transcendence“ nicht an eben jenen unbeantworteten oder gar niemals gestellten Fragen und des dennoch versuchten Ausspeiens von Binsenweisheiten. Sondern vielleicht führt schließlich nur die Dekonstruktion menschlicher Biologie zu einer Fassade, die nicht mehr als Außenwahrnehmung eines Körpers dient, weil sie der ihr zugrunde liegenden Schöpfung unsicher ist. Problematisch wird Pfisters visionäres Zuckerkuchenkonstrukt erst, als er kein Interesse an der eigenen Schöpfung mehr hegt; als die Vision nicht mehr der Theorie folgt; als die Praxis unvollendet in feinen Erdströmen in die Höhe flirrt. Wally Pfister möchte uns einen Gedanken einpflanzen. Nur entfällt ihm der Gedanke. Und man fragt sich: Gab es diesen Gedanken überhaupt jemals? Pflanzte nicht Pfister uns einen Gedanken ein, sondern waren wir es selbst?

Ich wusste nichts, und so verharrte ich in dem unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.

Stanisław Lem, „Solaris“ (1961)

Als theoretischer Zögling Christopher Nolans darf der einstige (und hoffentlich bald wieder vollends) Bildgestalter Pfister den Traum der Zukunft gebären, ob der Mensch sein Potenzial nicht vielmehr körperlos in Bits und Bytes perfektioniert. Dafür muss Johnny Depp (gänzlich uninteressiert) als Will Caster und Prototyp der Idee sterben, mittels einiger Drähte am Kopf in das teuflisch-verzwickte Computersystem seiner Frau Evelyn (Rebecca Hall) wandern und von dort aus diktatorisch die organische Welt massakrieren respektive digitalisieren. Science-Fiction im Deckmantel technologischer Singularität also: die reale Gefahr im Anschlag. Inklusive eines Ernstes, dass man im Verlauf der folgenden zwei Stunden kaum mehr weiß, ob man nun schon im Wachkoma liegt oder doch nur lethargisch das pseudophilosophische Brabbeln auf der Leinwand erträgt. Dabei leitet Pfister seine Scharade wie Nolan einst seine „Inception“ nach innen in den Menschen selbst ein, erzählt von einer Liebe, die auch Prozessoren überdauert, von einer Zeit, in der Forscher die popkulturellen Könige der Gesellschaft definieren, einer Welt, in der es wohl keinen absonderlichen Unterschied mehr macht, ob wir nun tagtäglich durch Tastaturen, Bildschirme und Kameras digitalisiert unseren Mitmenschen begegnen, oder ob wir gleich in der Maschine leben. Die Zukunft ist Vergangenheit und Gegenwart. Die Zeit aber ist in „Transcendence“ ein Perpetuum mobile – denn ohne Weiteres kann aus der Zukunft wieder lebendige Frühgeschichte werden.

Zumindest der Prolog, der nicht nur der narrativen Statik wegen eigentlich und ausschließlich Epilog sein sollte, mimt diesen psychologischen Heißluftballon bei aller organischen Aseptik noch unerschütterlich simpel (und es menschelt sehr), aber eben auch bereits rigoros aufgebläht unter Jess Halls Malick’scher Gedächtnislinse. Später jedoch – da baumelt Will Caster schon als Codesalat irgendwo zwischen On- und Offlinewelt – vermutet man noch immer, dass die Hintertür der überdimensionalen Kathedrale wie eben bei Trivialitäts-Maestro Nolan plötzlich erscheint und dass man einfach hindurch schreitet, weil man letztlich kein Interesse mehr hat, ob die Pille blau oder rot und das Kaninchen ein Déjà-vu ist. Vermeintlich geschickt wie Pfister aber ist, gibt es diese Hintertür nicht. Denn „Transcendence“ ist kein filmischer Clou, kein Crescendo, kein transzendierender Gott à la Ray Kurzweil (obwohl Pfister hier Bemühungen anstellt). Am ehesten noch ist „Transcendence“ ein fürchterlich verunglückter Spross aus Brett Leonards „Der Rasenmähermann“ (1992) und „Virtuosity“ (1995), die wohlgemerkt beide prä­ten­ti­ös und kommerziell, aber niemals zu bemüht den Neunziger-Jahre-Trash ihrer Inszenierung umschifften. Ein fruchtbares Drehbuch (Jack Paglens ek­lek­ti­zis­tisches Etwas gehört freilich nicht dazu) hätte Wally Pfisters mangelndes Gespür für Form, Schnitt und Rhythmus vielleicht retten können.

Die Erkenntnis lautet: So sehr der organische Mensch auch in Intelligenz und Rationalität dem technologisierten Elektronenhirn nachsteht, so sehr ist eben jener in seiner Imperfektion zu wahrer Liebe und gleichfalls grundsätzlicher Emotion fähig. „Transcendence“ ist sich dessen dennoch unsicher und nutzt den Eingriff in die Sicherheit menschlicher Natur konsequent inkonsequent. Da erinnert man sich nur allzu gerne an David Cronenbergs sensationelle, metamorphe Videospieltraumrealität „eXistenZ“ aus dem Jahr 1999 (!) zurück, in der mit Pistolen aus Speiserestknochen von irrsinnigem Fisch- bis Echsengetier geschossen und das Konzept erst spät in der Nabelschnur hin zum Bioport entdeckt wurde. Ohne den Zuschauer zu pampern, ihm das blütenweiß gestärkte Frottee-Handtuch über die Schultern zu legen und zu sagen: Die Zukunft wird hässlich – aber keine Sorge, danach ist alles besser! Und ein Tropfen synthetischen Wassers lässt zwei Sonnenblumen erblühen. Glücklicherweise ist „Transcendence“ bei aller transhumanistischen Infantilität noch kurzatmig genug, sodass man sogar danach brennt, von einem Nolan’schen Erguss in den Traum im Traum geschaukelt zu werden. Chapeau und Hallelujah! Es wäre schön, wenn man es nicht besser wüsste.

Meinungen

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