In gesprenkelten Schattierungen von Azurblau, beruhigendem Blattgrün und grellem Gold inhalieren die welligen Bauchmuskeln nackter Männer die Wogen des Sees vor ihnen, glattes, verhüllendes, stilles Wasser und das Unbekannte unter der Oberfläche: das Fremde am See. Dieser See strahlt Begierde aus, so wie er das blendende Sonnenlicht reflektiert, das Verlangen nach Freundschaft, nach Sex, nach Blut. Vielleicht Lust nach Macht oder nach Bewusstsein, Erkenntnis, Akzeptanz. Sogar eine pervertierte Sehnsucht nach Liebe. Alle Gelüste leugnete die Welt diesen Männern abseits jenes hermetischen Sees – die Wünsche, welche sie mit sich tragen, doch kaum bekennen können, und wie bizarr, mythisch, absurd sie in diesem verdrehten Paradies wirken, wo Offenheit eine völlig abweichende Norm als in der äußeren Welt definiert. Tatsächlich bleibt Ehrlichkeit dort nicht nur unerwartet, sondern implizit verboten. Nacktheit dagegen ist zu erwarten. Ebenso wirkt sie in Alain Guiraudies „Der Fremde am See“ durchaus fruchtbar. Denn Guiraudies See, mit seinem markanten, kontaktorientierten Inventar, skizziert in seiner konstanten Wiederholung bereits klarer Motive sorgfältig einen Mikrokosmos homosexueller Beziehungen.

Der Film schäumt geradezu um die Konzepte sinnlicher Begierde, sexuellen Wettbewerbs, Betörung und romantischer Sehnsucht, bis er schließlich (und äußerst plastisch) die Gefahr nach außen lagert, die zuvor implizit in den Büschen der benutzten (oder unbenutzten) Kondome lauerte. Dabei wandelt sich die Identität des titelgebenden Fremden im Verlauf ebenso wie das Drama von einer schlichten, aber effektiven Versuchsanordnung zu teuflischer Perfidie. Zunächst mag jener Fremde noch Henri sein (Patrick d’Assumçao), ein Eindringling in den Kies des freigeistigen Seeufers. Nach einer kürzlichen Trennung von seiner Freundin sitzt er allein am Strand, wie er Franck (Pierre Deladonchamps) erklärt, dem einzigen der Stammgäste, der sich ihm nähert, mit ihm anfreundet. Henri wählte das homosexuelle Ufer anstatt des heterosexuellen, weil die Leute ihn merkwürdig finden würden, spräche er dort jemanden an. Er sticht hervor wie ein wunder Daumen: übergewichtig und mittleren Alters unter den jungen, perfekt skulptierten Körpern. Aber er ist auch ein sträubender Kontrapunkt zu den vorherrschenden homosexuellen Diskursen des Sees und agiert wie ein weiser Refrain für das Drama des Films, welches eine unheilvolle Wendung einschlägt, als einer der Stammgäste ermordet wird.

Ebenso dringt darauf ein Kriminalbeamter (Jérôme Chappatte) in die Reduktion aus Fantasie und Fanatismus ein, sucht nach Hinweisen, der künstlichen Wahrheit und des wunden Daumens Selbstverständlichkeit. Wieder stimmt eine Figur einen Refrain an, nur jetzt deutlich prekärer als die gewiss in Zonen unterteilte Philosophie Henris: Welch Moral herrscht in der voyeuristischen Gemeinschaft sich bis auf den Strand Fremder; welch Kreis schließt sich, als ein Unbekannter oder ein so minimal Bekannter ermordet wird, und keine Frage laut in die Kiesel hallt, warum Auto und Strandtuch des Toten für Tage unberührt daniederliegen? Selbst im Sex ähneln sich die Einstellungen der Bildgestalterin Claire Mathon: die immer selben Blicke im Übergang von Sonnenlicht zu Dämmerung und das Flirren der Triebe. Der Sex ragt allgegenwärtig aus den umliegenden Büschen heraus, doch nach Namen fragt niemand, obwohl ihnen allen merkwürdige Intimität im Unbegreiflichen zuteilwird. Es schimmert ein fantastisches Element durch jene gesteckten Eigenarten des Spiels und Guiraudies reife Struktur, wie eben auch jenes schwebende (oder eher schwimmende) Zeichen in Form eines wohl äußerst bissigen Welses, welcher angeblich bis zu fünfzehn Fuß lang ist, sein Unwesen im See treibt und arglose Schwimmer jagt. Henri warnt Franck vor jener Gefahr, doch dieser lächelt die Bedenken als Sagen hinweg.

Ohnehin kümmert ihn und seine Libido alsbald nur ein weiterer Fremder am See: Michel (Christophe Paou), ein schnittiger Prototyp eines professionellen Schwimmers mit Schnauzbart im Stile Freddie Mercurys oder Tom Sellecks „Magnum“. Beinahe spielerisch, aber immer kapriziös taucht er in der Dämmerung den Kopf seines Liebhabers wieder und wieder unter Wasser. Derweil observiert ihn Franck und fordert selbst just in dem Moment, als Michel sein mephistophelisches Grinsen wahrhaftig werden lässt, die reinste Betörung und den Genuss zwischenmenschlicher Neckereien. Dabei bleibt „Der Fremde am See“ in all seiner Rätselhaftigkeit ein spärliches Drama, ausschließlich verankert inmitten des Sees, des Ufers, der umlaufenden Wälder, der Wiesen, des Parkplatzes. Denn er meidet bewusst filmische Betrügereien, um seinen erfrischenden Fokus auf die natürliche Schönheit zu legen – ob es nun der Mondschein auf dem See ist, der Wind, welcher die Bäume streift, oder die fleischliche Anmut karamellisierter Haut, markanter Züge und einem intensiven Stoß dicken Ejakulats.

Dieser Film noir führt uns im grellen Tageslicht auf eine sinnliche, erhabene Reise in eine idealisierte Welt, welche, obwohl nicht perfekt, durchaus begehrenswert und gleichwohl beunruhigend anmutet. Als diese Männer, jeder auf seine eigene Weise verzweifelt, verzweifelt die Kontrolle über sich und ein Leben zu behalten, das sie kaum halb verstehen, als diese Männer ihren Schutzmantel abwerfen mit der Erregung, sich mit vollem Freimut zu entblößen, erzählt „Der Fremde am See“ schließlich eine beunruhigende Studie der Einsamkeit und fabuliert über die Unzulänglichkeit dieser ästhetischen Vergnügen, in welchen er so überaus reich baumelt. Vor allem suchen sie alle emotionale Freuden, ob nun Stammgäste des Sees oder bloß zufällige Streiflinge; sie stehen stets auf dem Spiel, doch selten zur Debatte. Ebenso ist es eine fein kalibrierte Skizze über die Moralität oder Amoralität eines freigeistigen Lebensstils. Guiraudies kontrollierter Einsatz des Schauplatzes, seine frustrierend realistischen Charaktere, seine außerordentliche Verwendung von atmosphärischen Geräuschen und seine dezent naturgebundene Bildgestaltung kumulieren in einer fesselnden, emotional vielschichtigen Klimax. Es ist ein komplexes und bisweilen rätselhaftes Werk, das ein Stück homosexuellen Lebens offenlegt, welches größtenteils versteckt für die Uneingeweihten liegt. Es ist herausfordernd. Es ist konfrontierend.

Meinungen

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