Etwas stülpt sich nach Innen, schon im Exterieur. Dann die ersten Einstellungen, jene „establishing shots“, die in das Kommende treten und diesen einen bedeutsamen Schritt in die Inszenierung wagen, wie auch das wage Durcheinander von Ort und Charakter. Zuerst heißt es im Realen Timberline Lodge, auf filmischer Ebene bleibt wenig, höchstens das Fiktionale. Nun also, das Overlook Hotel: ein brütendes Wesen von Ort, eingebettet in die Isolation der Gebirgskette Colorados. Dort liegt etwas Bedrohliches im Inneren versteckt – ungeachtet seiner charmant nostalgischen Ausstattung, des kulissenartigen Heckenirrgartens und ebenso endlosen labyrinthartigen Fluren und Gängen. Doch eigentlich wäre es nichts, was der konsequenten, nahezu forensischen Analysen bedarf, die sich um einen Film über dreißig Jahre nach Veröffentlichung ranken, in dem eben dieses Hotel zum Protagonisten avancierte. Besonders da diese Spekulationen hauptsächlich einen Nährboden in den Anschlussfehlern von Stanley Kubrick finden, einem Gegenpol des charismatischen Regisseurs, berüchtigt für seine Akribie den Schwung einer Axt in über 120 Wiederholungen einzufangen.

Bei jener Szene, und jenem Film, handelt es sich natürlich um „The Shining“; Kubricks Adaption des Romans von Stephen King aus dem Jahr 1980, in dem ein Schriftsteller (Jack Torrance) und seine Familie (Ehefrau Wendy und Sohn Danny) Hausmeistertätigkeiten in einem abgelegenen Hotel übernehmen, bis Langeweile, Paranoia und die Einbildung des Übernatürlichen wie Efeu in ihren Verstand schleichen. Genauso anziehend ist die Mischung aus Akkorden des Schreckens und berüchtigter Bedächtigkeit, die schließlich in dem Geheimnis münden, was tatsächlich in Raum 237 verborgen liegt. Der Dokumentarfilm „Room 237“ nun beginnt zunächst mit einem Haftungsausschluss, um sowohl Kubricks Nachlass als auch die Produktionsmannschaft hinter „The Shining“ von den folgenden Meinungen zu distanzieren – ein dezenter Hinweis für uns Unterhaltung statt Aufklärung zu erwarten. Glücklicherweise sind die Ergebnisse dennoch zum größten Teil aufschlussreich. Debütant Rodney Ascher nämlich verwebt einen unkonventionellen Score und die im Mittelpunkt stehenden Interviews einer Gruppe „The Shining“-Enthusiasten; jeder mit seiner eigenen Deutung über die schicksalhafte Reise der Torrances in das Overlook Hotel.

Von Auslandskorrespondent Bill Blakemore, den die erste Sichtung von „The Shining“ paralysiert zurückließ und sich plötzlich mit der Vision konfrontiert sah, der Film reflektiere nur eines: eine Allegorie des Völkermords an den amerikanischen Ureinwohnern; bis zu Historiker Geoffrey Cocks, für den alle Indizien einen untrüglichen Schatten auf den Holocaust werfen – die Zahl zweiundvierzig, Jacks deutsche Schreibmaschine „Adler“ und ein Sticker von Seppi, dem Zwerg. Manchmal ist eine Dose Backpulver nur eine Dose, aber eine Schreibmaschine ist niemals nur eine Schreibmaschine. Dramatikerin Juli Kearns schließlich vermutet eine Nacherzählung von Theseus und dem Minotaurus in dem Heckenirrgarten, der labyrinthartigen Architektur des Hotels und Danny, der rückwärts in seinen eigenen Spuren im Schnee läuft. Und während Musiker John Fell Ryan einen experimentelleren Ansatz aufzeigt, indem er den Film gleichzeitig rückwärts und vorwärts laufen lässt, um seine gespenstische Symmetrie zu offenbaren, vertraut seine Theorie lediglich auf dem Zufall. Zwangsläufig grotesk verkommt die Sicht des selbsternannten Verschwörungstheoretikers Jay Weidner, der glaubt Kubrick hätte „The Shining“ als kodiertes Bekenntnis gedreht – für seine Teilhabe an der fingierten Mondlandung der Apollo. Unter all den Befragten wirkt Weidner am leidenschaftlichsten; verständlich, bedenken wir seine wilden Vermutungen, die von den Ecken der Webforen auf verbreitete Furore überschwappten und ihm angeblich eine Observierung durch die NASA einbrachten.

Da mag es sogar entlastend sein, dass Weidner niemals sein Gesicht zeigen muss. Tatsächlich harren alle Befragten im reinen Erzählertum; eine Wahl, die einige Gewöhnung fordert – selbst wenn es letztendlich zur Herausforderung wird die Theorie mit dem Theoretiker zu verknüpfen. Zweifellos definiert die Trennung von der üblichen „Talking Head“-Dokumentation die recht wissenschaftliche Perspektive, die den Fokus auf die Ideen selbst legt. Der Inhalt dominiert die Form. Ohne jedwede Beiträge von Beteiligten des Films verbleibt jede Aussage allerdings in Spekulation. Aber dies macht es nicht weniger interessant, denn die kollidierenden Verschwörungen und sich widersprechenden Perspektiven schaffen eine fast Barth’sche Abhandlung über das Urheberrecht: „The Shining“ als Rorschach-Test. Offensichtlich appelliert „The Shining“ an die Neugierde in uns; und das Verborgene in Raum 237 formuliert ein Puzzle, einen Zwang, der aus Mangel an Antworten versucht seine eigenen zu finden unter den Trümmern wiederholten Sehens. Für Kearns bedeutet das die Blaupausen des Hotels zu analysieren und damit die Fehler in der Architektur offen zu legen: von dem „unmöglichen Fenster“, das sich in dem Büro von Jacks Chef befindet und Danny trotzdem ersichtlich ist, als er jede Etage mit seinem Dreirad umsegelt und es für einen Sekundenbruchteil auftaucht. Ihre Deutung mag sich unterscheiden, dennoch teilt sie den Glauben ihrer Mitbefragten: Anschlussfehler gibt es nicht – nur Hinweise.

Ascher selbst verbleibt zwar durchgängig unparteiisch, streut aber dennoch verschmitzten Humor durch unzählige Filmausschnitte ein; ob er nun Kubricks Filmographie absucht (überwiegend „2001: Odyssee im Weltraum“ und „Eyes Wide Shut“) oder Stephen Kings Ausbruch gegen einen Fernseher in „Creepshow“ verwendet, um das zunehmend angespannte Verhältnis zwischen Regisseur und Autor zu beleuchten. Zunächst verwirrt die Zusammenstellung, da Tom Cruise als eine Art Protagonist ausgespielt wird. Die Ausschnitte fügen sich trotzdem nahtlos um die Theorien – manchmal so geschickt, als wenn sie nahelegen wöllten, eine verborgene Ähnlichkeit bestehe, eine stilistische Symmetrie, die durch das gesamte Werk des Regisseurs fließt. Mit seiner Begabung begehrte Kubrick einen Film zu fertigen, der Jahrzehnte näherer Betrachtung standhält. Etwas mit vielfachen Schichten, Facetten und Bedeutungen. Ein Kubrick’scher Zauberwürfel, wenn man so will. Rodney Ascher wagt es nicht jenen zu entschlüsseln, sondern vollführt den gewagten letzten Kniff, um jede Entschlüsselung zu verwerfen – sollte sie noch so naheliegend sein.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

6. Januar 2014
23:13 Uhr

Also ich finde die Theorien von Jay Weidner durchaus plausibel und grade, DASS er am leidenschaftlichsten wirkt, wie Sie schreiben, ändert daran nichts. Ganz im Gegenteil.

Die Anspielungen auf Geheimbünde, Missbrauch, Mind-Control etc in „Eyes Wide Shut“ sind ebenfalls sehr interessant. Dazu findet man auf youtube einige sehens- und hörenswerte Videos und auch eben jener Herr Weidner weiß interessantes zu erzählen.

Ob Kubrick wirklich an einem natürlichen Tod starb (kurz nach Veröffentlichung von E.W.S.!!), darüber darf nach wie vor mit Recht spekuliert werden.

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