Chile kann in drei Teile untergliedert werden: den Norden, das Zentrum, den Süden. Diese Klassifizierung hat Patricio Guzmán genutzt, um seine Werke selbst als ein (bisheriges) Diptychon zusammenzufassen. Neben „Der Perlmuttknopf“ beschäftigte sich Guzmán 2010 in „Nostalgia de la Luz“ mit dem Norden Chiles. Die trockene, ferne Wüste ist das abstrakte Gegenteil zu der Zentralmetapher in seinem neuesten Werk. Hier wird das Leben anhand des Wassers formuliert und wie die Indigénas auf der Insel Isla Dawson jenes Wasser, den Ozean und die Flüsse als ihre Conditio humana definieren. Ihren Lebenssinn, ihre Frohnatur entziehen sie dem Wasser. Denn das Wasser ist nach dem Glauben der Ureinwohner der Quell ihrer Vergangenheit, der Stimmen ihres Planeten und des Weltalls. Alles, was vergänglich ist, findet seine Erlösung im Ozean. In den reißenden Fluten und den sanften Wellen nimmt das Biologische seinen Anfang, aber auch sein spirituelles Ende.

Für die materiell unabhängigen Indianer kann ein Perlmuttknopf ein Schatz sein. Etwas, dass für sie nicht fassbar, nicht definier- oder gar kalkulierbar ist. Es mag keinen materiellen Wert besitzen, doch für einen Ureinwohner ist die Faszination dahinter größer als jeder Wert. Als zum Anfang des 19. Jahrhunderts englische Siedler zum Feuerland kamen, war einer der Indianer bereit, sie für einen Perlmuttknopf zurück nach England zu begleiten. Von nun an war er Jemmy Button. Von nun an war er nicht mehr derselbe. Ein vollkommener Identitätswechsel geschah, der in einem Identitätsverlust endete. Dieses exemplarische Beispiel greift Guzmán auf, um die geschichtliche und politische Relevanz hinter dem Auftreten der Siedler und Missionare aufzuzeigen. Aufgrund dessen starben Hunderte Indigénas durch Krankheit, der ihr Immunsystem nicht standhalten konnte. Verseuchte Decken und Kleidung waren Überträger dieser und richteten das Volk beinahe vollständig hin. Hier manifestiert sich der Kontext zu „Nostalgia de la Luz“: In beiden Dokumentarfilmen wird die politische Geschichte Chiles aufgearbeitet. Die Vergangenheit ist überschattet von jenen äußeren Einflüssen, die das Leben der Ureinwohner nach und nach beendet haben.

Manchmal hält Guzmán die Kamera einfach auf seine Interviewpartner und fragt sie im Hintergrund aus, dann schlägt er die Brücke zur Rekonstruktion und erzählt nicht nur, was geschehen its, sondern zeigt es auch. Um den Schrecken durch die Pinochetdiktatur transparenter zu machen, offenbart er die Unmenschlichkeit jener Politik. Man könne Respektlosigkeit und Ignoranz hinter der Sensationsgier jener Rekonstruktion von Mord und Entsorgung sehen, doch versteht es Guzmán die meiste Zeit, einen respektvollen Abstand zu halten. In der Sterilität eines leeren Raumes, nur bestückt mit einem Tisch, filmt Guzmán zwei Männer dabei, wie sie eine Puppe einpacken. Erst in Plastikfolie, dann in einen Kartoffelsack. Jeweils über die Beine und über den Oberkörper. Beschwert wird das Ganze mit einem Schienenstück, verschnürt am Körper der Puppe. Die Puppe steht für einen Menschen. Politische Gegner, einfache Menschen, redundante Individuen, die zu Desaparecidos wurden. Feinde des Diktators Augusto Pinochet, der in seiner Amtszeit als Diktator mehrere Zehntausend Menschen tötete. Guzmán verdeutlicht diese Gräuel durch Sterilität und Distanz. Die Puppe wird von einem Helikopter abgeworfen und im Ozean versenkt. Das Heiligtum der Menschen wird zum Massengrab. Jener Ort, der für die Indianer Nahrungsquelle war. Ganz im Sinne der spirituellen Bedeutung nimmt das Wasser jene auf, die es geschaffen hat. Es besitzt die Stimmen der Vergangenheit.

Durch seine Distanz und die spirituelle Verknüpfung zum Wasser als Metapher und den weiten geschichtlichen Bogen, den Guzmán zu schlagen gewillt ist, prozessiert er nichts, sondern rekonstruiert und lässt verstehen. Ähnlich wie die Ureinwohner selbst, die weder für „Gott“ noch für „Polizei“ ein Wort in ihrer Sprache Kawesqar haben, werden zwar der Patriotismus und die Abscheu deutlich, doch ist es immer noch ein dokumentarisches Essay, ohne Gerichtsbarkeit. Kameramann Katell Djian, hoch über Chile fliegend, aus dem All die Küste und das Meer beobachtend, lässt den philosophischen Kontext auch zu einer philosophischen, beinahe transzendenten Reise werden. Er beobachtet nur, während Guzmán erklärt, zeigt Djian mal einfühlsam, mal distanziert, welch Schönheit selbst hinter jeder Bösartigkeit liegen kann. Am Ende gibt es nur noch zwanzig Nachfahren der Indigénas, von zuvor Abertausenden. So vergänglich das Leben der Menschen ist, so versucht Patricio Guzmán die Geschichte der Unendlichkeit des Wassers anzupassen: Wasser vergeht nicht, es kommt wieder, ist in Bewegung, lebt und erzählt. Es ist eine metaphorische Reise auf den Gewässern Chiles, fließend und reißend. Aber vor allem versunken in den Tiefen der Geschichte Chiles.

Meinungen

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