Die Suche ist beendet. Nun wandeln wir uns zu den Künstlern, den Fantasten und Schöpfern des Staunens, der Magie und Täuschung, allein für die Wahrheit in uns. Denn sie kreieren Nachbildungen dieser Wahrheit, welche gefiltert durch jenes Gewebe der Kunst eine Wahrheit schmücken oder verstehen. Aber es folgt immer eine Beschränkung in der Suche nach Wahrheit. Wahrheit ist Wahrheit, Realität ist Realität, und die Kamera wirft schließlich beides auf uns zurück, um uns zu entdecken. Alle Wahrheit jedoch findet sich gebündelt in den zelebrierten Tätern des Massenmords – den gierigen, mächtigen, prominenten Verbrechern, die ihre abscheulichen Akte durch die künstlerischen Wiedergänger der Wahrheit erneut abbilden. Mit atemraubendem Freimut besinnen sie sich in Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ auf ihre Erzählungen, ihre außergewöhnlichen Einzelheiten, getragen von Stolz. Und in ihren primitiven, schwülstigen, skurrilen Wiederholungen wirken jene Erzählungen ungeheuer aufschlussreich. Aufschlussreich über die Wahrheit, die im Indonesien des Jahres 1965 geschah, aufschlussreich, was in Indonesien seitdem geschah, aufschlussreich über die Psyche jener, die darin verwickelt waren, aufschlussreich über die Psyche jener, die nicht darin verwickelt waren: wir und die Welt an sich.
Es ist verboten zu töten und alle Mörder werden bestraft. Es sei denn sie töten in großer Zahl und zum Klang von Trompeten.
Die Turbulenzen im Indonesien der sechziger Jahre begannen in den Spannungen zwischen der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), die von dem linksorientierten Präsidenten Sukarno unterstützt wurde, und der rechten Armee, angeführt von General Suharto. Am 30. September 1965 eskalierte die Situation, als sechs militärische Befehlshaber ermordet wurden, scheinbar von Mitgliedern der PKI, obwohl dies noch immer strittig ist. Darauf sandte Suharto seine Truppen zu einem Pogrom der Vergeltung aus, unter der Finanzierung und Unterstützung der Vereinigten Staaten, welche den Einheiten empfahl, die PKI vollständig zu brechen. Die paramilitärischen Gruppen bestanden weitgehend aus Kleinkriminellen, die angestellt wurden, um nach vermutlichen Mitgliedern der PKI oder kommunistischen Sympathisanten zu suchen und sie zu töten. Unzählige linke Intellektuelle, Menschen chinesischer Abstammung, landlose Bauern und alle mit irgendeiner Verknüpfung zur PKI wurden systematisch attackiert, gefoltert, vergewaltigt, getötet. Über den Zeitraum von zwei Jahren begangen sie wenigstens 500 000, einigen Schätzungen zufolge bis zu zwei Millionen Morde. Präsident Sukarno verlor seine Macht und wurde von Suharto abgelöst, der seine dreißigjährige diktatorische Herrschaft 1967 antrat. Das Blut an den Händen der Täter jedoch blieb – und die Täter gleichsam verantwortlich für das Land.
„The Act of Killing“ fokussiert sich nicht auf die strukturellen Ursachen der Säuberung, nicht auf die Rolle, die der Westen passiv oder aktiv spielte, sondern auf einer Handvoll von Individualisten, welche die Säuberung verübten. Diese Individuen diskutieren mit Oppenheimer über ihre Liebe zu amerikanischen Filmen und die Inspiration, die sie aus der Gewalt jener zogen. Als sie von der Diskussion über Filme dazu übergehen, ihre eigenen zu drehen, erkennen wir, diese Individuen behielten ungeachtet der Vergangenheit ihr jugendliches Selbst, Hüllen, die sie noch immer zur Schau stellen. Mit Kameras, einer Mannschaft und einem unfreiwilligen Publikum eskalieren ihre Nachstellungen und darin ihr begeisterter Größenwahn – von der euphorischen Aufführung ihrer Folterpraktiken bis zum Niederbrennen eines Dorfes. Szene um Szene des Verhörs, der Peinigung und Verwüstung rekonstruieren sie und der Grat zwischen „spielerischer“ Folter und tatsächlicher stürzt fortwährend zusammen. Sie fesseln uns. Doch fesseln sie uns, weil wir hoffen, die wahre Verdorbenheit ihrer Handlungen werde ihnen endlich klar – als sie von den Folternden zu den Gefolterten werden –, oder fesseln sie uns, weil mit jeder Drahtschlinge, die sie um die Hälse von „Schauspielern“ legen, unsere Angst wächst, letztlich nicht für einen Dokumentarfilm, sondern für Snuff bezahlt zu haben? Vielleicht ist die Antwort irrelevant. Denn Katharsis und Pornografie eint aus der Perspektive des Publikums das Warten auf eine Schlüsselsequenz, ob der endgültige Ausbruch nun emotional oder erotisch ist.
Diese Männer verübten Akte der völlig mutwilligen Respektlosigkeit gegenüber menschlichem Leben, undenkbare Akte des Massenmords, und sprechen offen und mit einigem Stolz über ihre erfundenen Methoden Menschen so effektiv wie möglich zu massakrieren, um ihren ständig steigenden Appetit nach Tod zu stillen. Wir sehen sie in der Gegenwart, wie sie Ladenbesitzer tyrannisieren, ihnen Geld zu geben oder Familien nötigen in ihren Rekonstruktionen mitzuspielen; wir sehen sie beim Golf, beim Bowling, beim heiteren Gesang und in ihrer nostalgischen Wehmut an den Missbrauch weiblicher Opfer. Nicht nur leben sie in völliger Straflosigkeit, sondern gewannen Status und finanzielle Mittel durch ihre Verbrechen. Indonesische Führer paktieren mit und loben diese Mörder, die jene schmutzige Arbeit für sie verrichteten. Doch Gauner allein, erwidern die Politiker rasch, bleiben nur „freie Männer“, nach dem indonesischen Wort des Englischen „Gangster“ – und freie Männer dienen der Gesellschaft. Gewinner schreiben Geschichte, Geschichte wird von Gewinnern geschrieben. In „The Act of Killing“ war und ist ein pervers-korruptes Regime von sadistischen Mördern der Gewinner und die „kommunistische Bedrohung“ nichts weiter als ein Akt patriotischem Heroismus’, der Dank verdient.
Währenddessen tauchen die drei ausgewählten Mörder in den Prozess zur Wiederaufführung ihres Genozids ein, jede Sequenz im Stile eines anderen Genres: Western, Musical, Gangsterfilm … So surreal, wie einige von ihnen sein mögen, ist es doch ihr Anliegen einen flüchtigen Blick in ihre Psyche zu erhaschen. Oppenheimers Taschenspielertrick einen Schritt zurückzutreten, lässt der Kamera und damit diesen Männern genügend Strick sich bildlich selbst zu hängen.
Gleichsam hält das Wort „Akt“ im Titel eine Zweideutigkeit inne. Es weist sowohl auf die Handlungen der Männer, jedoch ebenfalls auf die Möglichkeit, es gebe bereits eine Komponente des Spiels, der Darbietung in diesen Männern, schon vor den Wiederaufführungen. Um Tausende Leben zu beenden und unverändert zu bleiben, mussten sie sich in einen „Akt“ wandeln, eine Erfindung, eine Fiktion. So konnten sie in sicherer Distanz von ihren Taten verharren und ihr eigenes Bewusstsein belügen – so fanden sie des Nachts Schlaf. Die Täuschung ließ sie die abscheulichen Ausschnitte der Realität leugnen, wie sie auch vor der Kamera ihre Morde in Fiktion formen. Denn die Fiktion amerikanischer Spielfilme gab ihnen diese Dimension und Inspiration, immer neue Tötungspraktiken zu finden und mittels Musicals vor den Morden in eine „gute Stimmung“ zu kommen. Als eine Untersuchung in die Maschinerien zur Selbsttäuschung durch Weltflucht und das Geschichtenerzählen brilliert Oppenheimers Diagnosepapier, indem es fasziniert und seine Subjekte transzendiert, eine metaphysische Prüfung zu werden, über das menschliche Bewusstsein und wie es sich selbst belügt.
Welcher Taten sind wir fähig, welcher Weigerungen, Bürden, Heucheleien? Was bedeutet das Eingeständnis, unsere Leben im Rückblick zu betrachten, zu wiederholen, zu prüfen? Lernen wir aus diesem Prozess? Nicht nur offenbart „The Act of Killing“ unangenehme Wahrheiten über die Natur der menschlichen Psyche und ihre Fähigkeit Akte voller Bosheit zu rechtfertigen, sondern zeigt zudem wie formbar Geschichte und Vergangenheit sind – doch Fiktion immer neu erfinden. Schließlich waren die CIA und die Regierung der Vereinigten Staaten direkt in die Hinrichtungen verwickelt, und westliche Führer unterstützten weiterhin Diktator Suharto. Niemand wird jemals für diesen Genozid zur Verantwortung gezogen, keine Gerechtigkeit jemals den Familien und Freunden der Getöteten zuteilwerden. Die letzten Szenen dieses erstaunlichen Dokumentarfilms wirken ebenso erleuchtend wie mysteriös. Sie wenden die Kamera auf uns selbst. Eine Ohrfeige erwischt uns, als wir uns erinnern, in welcher Welt sinnloser Grausamkeit und Ungleichheit wir leben.
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