Manchmal ist ein Filmfestival nicht nur Arbeit, es ist vorrangig Kampf. Ganz so wortwörtlich wie im Falle des Erstlingswerks von Ryan Gosling, welches nun statt „How to Catch a Monster“ schlicht „Lost River“ heißt, sollte man diesen Kampf aber wirklich nicht nehmen. Ein Mann knapp hinter mir in der Warteschlange meinte dies aber ein wenig anders. Als sich da ein Journalistenkollege nicht hinten anstellen wollte (und es ging sehr sehr weit nach hinten), da fing er plötzlich an zu wüten und hätte wohl auch vor konkreten Angriffen keinen Halt gemacht, wenn sich denn nicht just in dem Moment die Schlange endlich bewegt hätte. Das ist immerhin der Vorteil der Nebensektion Un Certain Regard, die zwischen Gelben und Blauen keinen Unterschied macht. Ansonsten wäre Goslings Debüt der zweite Film gewesen, für den ich zwar anstand, ihn jedoch nicht sehen konnte. Ein trauriger Blick inklusive viel Mitleid galt dann aber dem Grüppchen Cinephiler (laut Cannes’scher Nahrungskette kommen diese zuletzt), die nach den gelben und blauen Journalisten hätten Platz nehmen dürfen, aber nicht im Ansatz eine Chance hatten. Da war der Balkon nämlich schon zur Genüge gefüllt. Und der werte Herr, der für den halben Aufstand verantwortlich war, saß bereits eine Reihe hinter mir. So viel zum Thema Geschrei. Dass „Lost River“ zudem ein banalst substanzloser Rohrkrepierer war, geboren aus David Lynch und Nicolas Winding Refn – nur ohne Eier –, möchte ich den armen cinephilen Seelen aber nicht vorenthalten.

Dabei begann Tag 7 (sowas wie der Endspurt hat offiziell begonnen) erwartungsgemäß großartig mit dem Wettbewerbsbeitrag der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, „Zwei Tage, eine Nacht“. Marion Cotillard spielt darin eine Frau, die verzweifelt um ihren Job kämpft und dafür ihre sechzehn Kollegen überzeugen muss, den Bonus in Höhe von 1000 € abzuschlagen. Ein Wochenende bleibt ihr dafür Zeit. Wilder Applaus folgte, in den ich zufrieden einstimmte. Ist das schon ein Vorzeichen auf die dritte Goldene Palme der beiden? Viel Konkurrenz nämlich haben sie dieses Jahr noch nicht, obwohl die Filme von Ken Loach, Andrei Swjaginzew und Olivier Assayas erst folgen. Und auf die wirkliche Überraschung wartet sowieso jeder.

Die Abwärtsspirale des Tages setzte dann abrupt mit Zhang Yimous „Coming Home“ ein. Warum Steven Spielberg nach dem Film wohl eine Stunde lang weinen musste, scheint zwar schlüssig, ist aber gleichzeitig in seiner Manipulation auch ausuferndes Problem. Hier nämlich kehrt ein Mann nach Jahren der politischen Verbannung zurück, doch seine Frau erkennt ihn nicht mehr. Was wie Alzheimer wirkt, entpuppt sich jedoch als psychische Störung. Und man weint; und das viel. Aber der Film macht es sich damit auch extrem einfach, weil er der Repetition nur erliegen muss. Ein weiterer Beitrag vielseitiger Wiederholung klopfte dafür an Tag 8 an: Damien Chazelles „Whiplash“. Wobei klopfen untertrieben wäre, er hämmert vielmehr. In dem etwas abgelegenem Studio 13, in das sich wohl zwischen den Filmen im Palais niemand zufällig verirren würde, wummerte die letzte Vorführung dieses mehr als nur sensationell intensiven Films, der einem keine ruhige Minute und vor allem kein ruhiges Bein lässt. Hier zeigte sich auch das generelle Glück einer Presseakkreditierung, da es in den unabhängigen Nebensektionen keine farbliche, sondern nur eine prinzipielle Unterteilung gab. Hieß, ich durfte schnurstracks in den Saal spazieren, während vor dem Kino locker dreimal mehr Menschen anstanden, als die 197 Sitze Platz geboten hätten. Gelb gewinnt!

Besprechungen im Überblick

„Coming Home“ (Ausführliche Kritik)

„Coming Home“ ist nur ausformulierte Zensur, welche Film selbst die Fragen verbietet, mögen sie in der realen oder fiktiven Historie auch noch so offensichtlich anklingen. Jener Zhang, der sich gegen den Staat und gestrengen Kulturbetrieb auflehnte, lässt die Enge des Wortlosen hier ohne Ausflucht eintreten, obwohl ihm das Trauma wahrhaft großer und emotionaler Geschichten einst zu wundersamer Systemkritik gereichte. Die Geschichte einer Verbannung und der dann folgenden Verdrängung zeigt ein Kino des Fühlens, das über die Jahre dauert. Aber die Gefühle stagnieren – bis auch Zhang Yimou dieser Reduktion auf das Wesentliche nachtrauert. Weil die Liebe sich ändert; und erst die Veränderung ihr neue, für ein Narrativ notwendige Facetten abringt. Obwohl sie für den Regisseur immer Kampfkunst bedeutete, füllt nicht jede Liebe auch ganze Bewegungen. Manchmal ist sie nur Stillstand. Aber auch Stillstand steht im Film nie still. Zumindest nicht so, wie „Coming Home“ ihn in prallen Regenschauern malt, aus denen die letzte Schönheit tropft.

„Lost River“ (Ausführliche Kritik)

Ryan Goslings Debüt „Lost River“ (ehemals metaphorischer: „How to Catch a Monster“) gefällt sich in Subjektiven, Adjektiven, Artikeln, sogar in Pronomen – doch er gefällt sich weniger in Kohärenz. Denn er ist die Blaupause eines Objekts, welches bereits in unzähligen, manchmal brillanten, manchmal lediglich Sinn erweiternden, aber immer funktionell interessanten Versatzstücken eigenständiger Subjekte bestand. Kurzum mangelt es ihm an Verben, die, selbst bei indiskutabler Anwendung der übergeordneten Grammatik oder simpelster Syntax, aus dem Chaos eine Gerade würden werden lassen. Wie treffend, da die hier titelgebende Stadt eine verlorene ist: ein verlorener Fluss eines verlorenen Narrativs; ein Trick ohne Schalter von David Lynch nach Nicolas Winding Refn über zu Terry Gilliam; ein Spiel ohne Ziel und mit allerhand Zweck entfremdeter Spielzeuge.

„Zwei Tage, eine Nacht“ (Ausführliche Kritik)

Wenn in den Filmen der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mehr passieren würde als das Leben, dann wären es wohl vermutlich keine Filme der Brüder Dardenne mehr; dann wären es wohl nur noch leblose Hüllen über den Sozialstaat, über Eigentum, Glauben, Politik und Postkapitalismus; dann würde in ihnen ein Feuerwerk kinematografischer Fülle explodieren, aber die Emotionen, die würden begraben werden. Da „Zwei Tage, eine Nacht“ aber ausdrücklich ein Werk der zwei ist, raunt es aus ihm wie eine Fabrik, die ihre Arbeit einstellt. Es stellt die Frage: Zählt man selbst mehr oder ein anderer? Lebt man besser in Materialismus oder besser in Nächstenliebe? Den semidokumentarischen Hauch inklusive Handkamera legt „Zwei Tage, eine Nacht“, obwohl leibhaft gewordenes Markenzeichen der Dardennes, jedoch für eine leichthin saubere bis klinische Inszenierung ab, die dabei noch immer auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten weilt.

„Whiplash“ (Ausführliche Kritik)

Manche Filme explodieren langsam, Damien Chazelles „Whiplash“ explodiert unentwegt. Es trommelt in ihm, es trommelt mit ihm, es pocht in einem Takt des unbedingten Willens, es birst immer und immer wieder bis zur Selbstaufgabe, die niemals folgt. Andrew (Miles Teller) ist dieser Trommler, der – aus welchen Gründen auch immer – der Beste aller Schlagzeuger werden will. Soweit, so banal. Denn das Trommeln ist hier vielmehr Sport, wie ein Boxkampf, in dem fortwährend Runde um Runde kein Sieger aus dem Ring steigt. Schlagzeuger gegen Schlagzeug. Mensch gegen Instrument. Mensch gegen Tempo. Mensch gegen Lehrer. Terence Fletcher (J.K. Simmons) ist dieser Lehrer, der – aus welchen Gründen auch immer – ein asozialer Teufel ist. Wenn er den Raum betritt, verstummen alle Laute; wenn er den Raum verlässt, bleibt nur noch Angst und Schweiß zu atmen. Eine kleine Sensation!

Meinungen

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