Einfache Geschichten sind nicht glaubenswert – und wenn eine Geschichte leicht verständlich ist, wurde sie falsch erzählt. Baal (Rainer Werner Fassbinder) ist ein Teil von einer dieser Geschichten und bewegt sich am Leitfaden einer 24-teiligen Erzählung entlang, die es weder einfach noch leicht verständlich auf diese Formel bringt: Das Schönste ist das Nichts. Oder: Erst das Nichts entscheidet über den Zusammenhang. In Anbetracht dessen trotzt „Baal“ zahlreichen innerfilmischen Konventionen und ringt dem Zuschauer eine Menge Lesegeschick, Spürsinn und Empfindungsvermögen ab, Bedeutung im Unsinn zu erkennen. Volker Schlöndorff hat aus dem gleichnamigen Bertolt-Brecht-Stück ein anarchisches, quirliges und naturgewaltiges Manifest der Befreiung inszeniert, flankiert von Gott und Schnaps, unaufgeräumt im Heiligen wie im Profanen „aus der Hand gedreht“.

Lange Zeit war Schlöndorffs tollkühne Interpretation weggesperrt, verboten, belächelt. Der Film nämlich emanzipiert sich unübersehbar von seiner Vorlage, wuchert vor Fantasie und Spontanität. Statt in einem gesellschaftlichen Makrokosmos die Frage nach einer systemimmanenten zwischenmenschlichen Entfremdung zu stellen, kehrt Schlöndorff die Ausgangslage um, reduziert sie gar auf einen mikroskopischen Blickwinkel. Indem er Baal an einer existenziellen Ichsucht ersticken lässt, vertraut der Film methodischer den intimen Belangen seiner Hauptfigur. Rainer Werner Fassbinder spielt Baal wie ein Geschwür, das am Himmel Fettflecken hinterlässt, wie einen Hofnarren, der sich durch ein ausrangiertes Deutschland frisst, wie ein Lausbub, der getrieben zwischen den Aggregatszuständen des Seins wandert. Baal verprügelt und vergewaltigt Frauen, flucht und flüchtet, jammert und hadert. Seine lyrischen Litaneien wirken wie fragile Erkennungsmelodien, wie Schutz(t)räume, die vor der Gefühlsvergletscherung des Mitmenschlichen abschirmen, dort, wo aus Bechern überschäumender Champagner aus den Fugen geratenen Irrsinn verbildlicht.

Schlöndorff selbst, sonst für akkurate, großzügig entspannte Literaturadaptionen wie „Homo Faber“ und „Tod eines Handlungsreisenden“ zuständig, bildet mit Fassbinder hierbei ein harmonisch-disharmonisches Gespann, das die Voraussetzungen kreiert, den filmischen Denkapparat auf der Leinwand zu verwirklichender Literaturstoffe zu unterlaufen. Dieses „Baal“ ist fleischlich, nichtig, prätentiös. Die verwackelten 16-mm-Handkamerabilder evozieren gleichfalls delirierende Unruhe wie schwermütige Starre. So gesehen ist der Film weit von „Professionalität“ entfernt, denn seine Profession ist das Brüchige, das Kriselnde und das Welterstickende. Die einzelnen narrativen Bruchstücke, in denen „Baal“ meistens assoziativ erzählt, werden folglich von einem vorwiegend rohen Naturalismus getragen. Keine nachgebauten Studiokulissen dienten Schlöndorff als Schauplätze, sondern die authentische Wirklichkeit teutonischer Nachkriegstopografie: ein verrotteter Fahrzeugfriedhof, in natürlichem Licht gefilmte Waldabschnitte, verkommene Bunker, mystisches Wasser.

„Baal“ fügt dem Brecht-Theaterstück in diesem Sinne eine zusätzliche Bedeutungsebene hinzu – das beinah mythologische Wechselverhältnis von derber Städtearchitektur und unberührter Natur, von einer Dystopie, die eingebettet ist in eine Utopie, avanciert zu einem Leitmotiv der filmischen Erzählung, die eine Zeit beschwört, die fern scheint, aber eigentlich immer da war. In dem Moment, wenn Baal am Schluss schließlich eins wird mit dem Erdboden, auf dem er sterbend liegt, „befreit“ sich ein ewiger Miesepeter in undenkbarer kathartischer Selbstverwirklichung. Schlöndorff gestattet Baal einen Restfunken liebevollen Bedauerns. „Baal“ ist zugleich Untergang wie Transzendenz. Parallel zu zwei fundamentalen Strömungen des Weltkinos, dem New Hollywood der Siebziger sowie der französischen Nouvelle Vague der Sechziger, abstrahiert Schlöndorff außerdem deren gewichtigste Ausdrucksmittel zu einer Kunstsprache, die untypisch ausgelassen das deutsche Kino in eine andere Form zwingt. Er übernimmt das formal Rustikale und Abgeblätterte der amerikanischen Autorenfilme jener Jahre sowie das ausschließlich für den Augenblick Existierende und ununterbrochen Redselige der französischen Postmoderne, um dem Theater in einem Punkt zu begegnen: „Baal“ verhehlt nie, dass die Dialoge der Darsteller artifiziell-mechanisches Auswendiglernen und genauestens nach einem steifen Gegenreaktionsschema bemessen sind.

Das Werk erfüllt summa summarum die Rolle eines nostalgischen Artefakts, das lange genug mit Staub bedeckt war, obwohl es sich empfohlen hat, filmgeschichtlich endlich ausgegraben zu werden. Um Schlöndorffs ungeheuerliches Fabulieren nach wie vor zu mögen oder wenigstens zu entdecken, bedarf es eines aufgeschlosseneren Kunstverständnisses, das standardisierter Erzähllogik widersteht. Lieber reizt es den Regisseur am Entwerfen einer diegetischen Logik, die auf ein von ihm eigenkreativ geschaffenes Universum abgestimmt ist, einem Universum freimütiger Rebellen, die frenetisch rezitieren, einem Universum der Religion ohne Gott.

Meinungen

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