Es ist was es ist. Vergänglich ist sie, doch unendlich im Herzen verankert; sie erfüllt und entrückt, doch bricht unsere Existenz entzwei; sie versetzt Bäume und malt Schluchten. Die Liebe. Der Blick der Liebe, ihre Berührung, ihr Geruch, Geschmack. In Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ ist es eine geradezu mythische Symphonie. Sie erweitert sich lautlos über das unmittelbare Objekt der Liebe, der Person, die sie entzündet, und jene, die sie erhält, in all ihrer Freude und in all ihrem Schmerz. Es geht um die Entdeckung wirklicher Liebe zum ersten und vielleicht letzten Mal, um die Mittel der Liebe diese Herzen zu entleeren. Nie werden wir wieder fähig sein so zu fühlen wie nach dieser Leidenschaft undenkbarer Intensität, aber auf Kosten des Wissens – des Besserwissens. Aber sie ist unwiderstehlich, und wir ergeben uns. Wir tauchen in diese Liebe und erwachen klüger, stärker, sensibler; doch ein gerechter Tausch ist es nicht, es ist kein Handel. Wir werden dessen beraubt, was uns verzehrte, definierte und unser Selbst chauffierte, während wir inmitten ihrer Wallung waren. Es war ein Rausch, ein purer Rausch.
Wir werden geformt und gestaltet durch das, was wir lieben.
„Blau ist eine warme Farbe“ ist eben jener Rausch. Die vergängliche, atemraubende, rabiate Euphorie seinen Körper an einen anderen zu stoßen und eine höchst intime doch erlesene Freude sowohl zu geben als auch anzunehmen. Die beißende, heftige Brutalität das scheinbar unzerstörbare Band zweier Menschen auseinander reißen zu sehen, sich zu verrenken, ob nun bereitwillig oder nicht, die schiere Ungeheuerlichkeit, die wir uns auferlegen, und das Wissen, dieser Schmerz werde niemals völlig nachlassen. Sogar die vollendete Schönheit der Kunst, der Malerei und Literatur, selbst des Essens, der Philosophie. Dies ist ein Film, den wir nicht nur sehen, sondern in dem wir leben möchten. In seinen erhabensten Momenten und zugleich jenen grotesken. Für Adèle (Adèle Exarchopoulos), in ihren wenigen wundersamen Jahren, heißt leben vor allem lieben, und lieben heißt leben. Der Blick, die Berührung, Geruch, Geschmack der Liebe. Sie lebt jeden Bissen davon.
Noch in der Schule liest sie Pierre Carlet de Marivaux’ unvollendeten Roman „La Vie de Marianne“ (der französchische Titel „La Vie d’Adèle“ bezieht sich als klassische Andeutung darauf) und der Lehrer fragt die Klasse, wie sie es verstehe, wenn das Herz etwas vermisse – wie sie die Einsamkeit einer Welt definiere, in der wir täglich auf Menschen treffen, doch Fremde nie Bekannte und Bekannte nie Freunde werden. Sie treten ein in unser Leben und schwinden wieder. Ein Wimpernschlag. Zugleich zwinkert uns doch beständig die Magie einer Liebe auf den ersten Blick zu. Blicke schwärmen erst ungelenk umher bis sie sich verankern, sich wieder lösen im Vorbeigehen, sich Köpfe wenden und Sonne Gesichter umspielt und der Andere schließlich verlorengeht. Auf einer Straßenkreuzung prallen ihre Leben aufeinander, das der Adèle und jenes der wesentlich älteren Kunststudentin Emma (Léa Seydoux). Blaue Haare – blaue selbstgefärbte, ungezähmte, kurze Haare – streifen Adèle. Für viele Jahreszeiten umspielt sie nur blau: blaue Fingernägel, blaue Haustüren, blaues Licht, die blau gestrichene Wand eines Flurs, die unentwegt blauen Blusen – alles drängt in Azurblau, in Violett- und Cyanblau durch ihre Seele. Bis sie sich die Nägel rot lackiert, von einer Ausstellung Emmas flieht, um die Ecke des nächsten Häuserblocks biegt und gleich zwei Kapitel ihres Lebens schließt.
Denn die Liebe zwischen ihr und Emma ging verloren. Zunächst stürmte die Lust auf sie ein und versank mit ihnen und den stürmischen Akten im ersten Kapitel des Kennen- und Liebenlernes – der Magie. Ein Umbruch, ein harter Schnitt, wie Kechiche noch viele in sein Werk strickt, und der Alltag hält in dem folgenden Kapitel Einzug und treibt sie in eine Beziehung einer gar stereotypen Aufteilung. Die nun Lehrerin Adèle kocht, während die vollends zur Künstlerin gereifte Emma Aktmodelle von ihr zeichnet, die Brustwarzen markant stehend und eine Zigarette in den Lippen hängend – wie die mondän-physische Statue einer Täuschung der Außenwelt. Denn in allem steht sie, diese Adèle; Adèle, die bei Frauen und Männern gleichsam eine Verlockung ausspricht, doch die Innigkeit und Wärme nicht in der Beziehung zu Männern, sondern in der zu Frauen findet. Bereits ihr erstes Mal mit dem attraktiven und leicht älteren Schüler Thomas (Jérémie Laheurte) inszeniert Kechiche mit drängender Kraft, um das kurzweilige wie unbeständige Geflecht zweier Menschen zu kolorieren. Den einen jedoch, Thomas, verzehrt es nicht nur physisch nach Adèle, er verliebt sich in sie, obwohl sie ein Gefühl vermisst, eine Wallung im Herzen. Sie trennt sich von ihm, eine Träne gleitet über sein Gesicht, er schmeißt die Trostzigarette hinfort, steht auf, flüchtet aus ihrem Leben. Gleichzeitig entsteht ihre Befreiung.
Doch ist das Herz nun leerer oder ist es voller als zuvor? Treffen wir einen Menschen und die Blicke verankern sich: Ist das Herz nun leerer oder voller als zuvor, obwohl es vielleicht nur dieser eine Augenblick zweier Seelen bleibt? Vor allem jene Frage füllt Kechiche als Erzählung in Emotionen, in Ermangelung einer musikalischen Untermalung im fortwährenden Keuchen, Schmatzen, Schlürfen, Stöhnen, in den lustvoll aufgerissenen Mündern und geröteten Augen. Er illustriert eine Liebe der Gegensätze zwischen Arbeiterklasse und ungezwungenem Stil der Bohème, zwischen einer umfassenden Lebensplanung und einem Flirren in den Momenten. Obwohl „Blau ist eine warme Farbe“ darin gleichwohl den Gedanken einer umfassenden Homophobie in der Gesellschaft reduziert, so spielt er dennoch mit den thematischen Verstrickungen, der Wut und offensichtlichen Diffamierung und Differenzierung gegenüber heterosexuellen Paaren. Kechiche jedoch interessiert substanziell Adèles Findung in einer Welt körperloser Beziehungen. Die Liebe zieht ihn an, die reiche, die verborgene, die geächtete; jene, die uns gleichzeitig die Luft zum Atmen gibt und nimmt.
Entgegen seiner exorbitanten Laufzeit gestaltet Kechiche sogar ein Werk der Auslassungen in den emotionalen und biographischen Chiffren seiner Charaktere, einer Schwerelosigkeit zwischen den Zeilen und inneren Beziehungsgeflechten, doch losgelöst, aber nie allzu entfernt der grafischen Novelle und Vorlage „Le bleu est une couleur chaude“ von Julie Maroh. Indem sich Bildgestalter Sofian El Fani zudem anschleicht und in der Mimikry des Gesichts verweilt, den Mündern, Augen, der spielenden und umspielenden einzelnen Haarsträhne, elektrisiert er das Spiel der Adèle Exarchopoulos und in ihr die Gespielinnen, die sich gegenseitig verschlingen – mit ihren Lippen, die sich um Spaghetti und Austern schließen und das süße Leben kosten. Die klaustrophobische Beharrlichkeit imitiert Kechiche sogleich von seinen eigenen disziplinierten Sozialstudien, besonders jenen fahrigen Szenen am Essenstisch von „Couscous mit Fisch“. Selbst die kontrovers rezipierten Szenen der Hingabe erforschen die Seite eines Porträts nicht im erotischen oder pornographischen Kontext (immerhin sinken wir einmal sogar knappe sieben Minuten in die Erhebungen und Senkungen der Körper), sondern folgen dem privaten Naturell einer Beziehung fern einer Ästhetisierung mittels scharfer Schnitte am Anfang und Ende. Adèles Sexualität und ihre immediate Unsicherheit strukturieren den Film in einem unbewussten, nahezu lautlosen Stil und mit ihm das subtil-überragende wie furchtlose und entrückte Spiel dieser Adèle Exarchopoulos. Eine Muse aller Kunst in sich, ein Geschenk und eine Sehnsucht. Wäre dies der letzte Film auf Erden, bliebe Film noch immer die sanfte Waffe des Geistes hinein in unsere Gedanken und Herzen.
Manchmal, manchmal in sehr langer Zeit verlieben wir uns wahrhaftig in Film. Denn Film in seiner höchsten Güte zeigt nicht nur das Leben, es verdichtet und bearbeitet es zu den Träumen, denen wir uns in lauen Nächten entgegenstrecken, nach denen wir uns sehnen und sie ein einziges Mal erleben möchten. „Blau ist eine warme Farbe“ lässt jenen Traum erstehen mit der Intensität eines sanften wie schmerzhaften Kusses – ein zarter Biss in unser Herz.
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