Nachdem er ins Internat abgeschoben wurde, brüllt Hubert seine Mutter an und fragt sie in seiner maßlosen Arroganz eines dummen Kindes, was sie tun würde, wenn er sterben würde. Die Antwort interessiert ihn nicht – und doch hören wir sie leise flüstern: „Ich würde morgen sterben.“ Diese Szene exemplifiziert die Wirkung von „I Killed My Mother“, wendet man sich ab von der juvenilen Einseitigkeit der Adoleszenz, mit der der Protagonist durchgehend hausieren geht. Es geht nicht um den Hass eines Jungen gegenüber seiner Mutter, auch nicht um ein dysfunktionales Familienbild, vielmehr skizziert Xavier Dolan in seinem Debüt ein kammerspielartiges Konstrukt einer Beziehung, die zwischen fehlender Autorität und Kommunikation ihre hierarchische Struktur verloren hat und im Laufe der Zeit bröckelt, leise aufbaut und irgendwann in sich zusammenfällt. Am Ende liegt ein Scherbenhaufen, der zuerst aufgesammelt werden muss, bevor er wieder zusammengesetzt werden kann.
Der Filmtitel suggeriert die irreführende Tat eines physischen Mordes, doch hier gibt es keine nonverbalen Auseinandersetzungen. Überhaupt ist der einzige ernst zu nehmende physisch-schadende Kontakt jener, als Hubert verprügelt wird, weil er homosexuell ist. Doch zwischen Mutter und Sohn kommt es zu keiner handgreiflichen Auseinandersetzung, wodurch der Titel und damit die Bedeutung des Films auf Basis der kognitiven, emotionalen Ebene zu verstehen ist. Hubert macht zwei Andeutungen, in der das Leben seiner Mutter vakant ist: Gegenüber seiner Lehrerin bezeichnet er sie als verstorben, und im Internat gibt er einen Aufsatz mit dem Titel „J’ai tué ma mère“ – „Ich tötete meine Mutter“ – ab. Doch keine der Äußerungen wird Bedeutung beigemessen. Hubert tötet seine Mutter für sich innerlich ab, versucht sie als emotionalen Wert zu eliminieren und ein Leben ohne sie zu führen. Nicht umsonst möchte er mit seinem Freund zusammenziehen. Dolans Schwierigkeit, die Beziehung zum einen wirklich zu benennen und zum anderen im Gesamtkontext einzufügen, scheitert daran, dass er die Figurenkoalition zugunsten einer plakativen Rekonstruktion seiner Restfrustration seiner eigenen Jugend aufgibt.
Konflikte gestalten sich aus Anschreien und Vorwürfen – nicht aus Auseinandersetzungen. Dies vermag dem Realitätsanspruch einer Ja-nein-Diskussion entsprechen, aber keiner versucht psychologischen, zumindest aber emotionalen Annäherung der Thematik genügen. Die Dramaturgie bleibt auf einem Level der Einseitigkeit, sie stagniert im Stadium des Hasses, der unausgesprochenen Sehnsüchte. Ein Prozess, der erklärend fungiert, und die Charaktere innerlich vorzustellen vermag, ist nicht vorhanden. Stattdessen überhäuft Dolan sein Publikum mit pubertärer Uneinsichtigkeit, die nicht selten von einer unschuldigen Adoleszenz Abstand nimmt und in Bösartigkeit und Selbstverliebtheit mündet. Er selbst sagt heute, dass „I Killed My Mother“ den Eindruck einer Bestrafung mache. Eine Bestrafung für die dargestellte Mutter, aber auch eine Bestrafung für seine eigene. Denn die Darstellung der Mutter funktioniert nur als Unsympath, als Gegenpol zu dem Sympathie empfindenden Hubert, der zwar in seiner jungen Dummheit gefangen ist, aber nachvollziehbar, wenn auch extrem, handelt. Anders ist die Mutter zu verstehen, die nicht nur eine Sorgfaltspflicht, sondern auch eine Pflicht der Liebe hat. Und dieser Liebe kommt Chantal in ihrer Position als Mutter nicht nach. Sie als Charakter abzulehnen, ist zu einfach, als dass Dolan die Vielschichtigkeit von komplexen Mutter-Kind-Beziehungen ernsthaft reproduzieren könnte.
Fern des Mutter-Kind-Konfliktes zelebriert Dolan parallel die Rebellion der Jugend; vor den fehlerhaften Fortschritten des Erwachsenwerdens ist selbst er, oder sein Alias Hubert Minel, nicht gefeilt. Denn die autobiografischen Züge, mit denen der Regisseur und Hauptdarsteller versucht, seinem Protagonisten Menschlichkeit zu verpassen, demonstrieren die eigene Unfähigkeit des Erwachsenseins, zu dem Hubert, so gern er es wäre, nicht imstande ist. Dies mag beabsichtigt sein, verhält sich aber kontraproduktiv mit dem Konflikt zu seiner Mutter und seiner Darstellung als eigenständiges Individuum. Seine Homosexualität, nur halb so oft erwähnt, wie man annehmen könnte, bekommt im Charakteraufbau eine zu geringe Aufmerksamkeit, um tatsächlich einen Figurenkonflikt zu simulieren. Hubert eiert zwischen seinem pubertären Hormon-Tsunami und dem unaufhörlichen Freiheitsdrang hin und her, findet aber keinen Anhaltspunkt.
Und dennoch: Für das Spielfilmdebüt eines Neunzehnjährigen beeindruckend, wie reflexiv, wenn auch selbstverliebt, Dolan seine Jugend aufarbeitet. Die filmische Darstellung ist markant, inspiriert und inspirierend. Für seine weiteren Werke ist der Anspruch hoch.
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