San Fernando Valley, irgendwann um die Jahrhundertwende: Ein Mann in einem blauen Zweiteiler sitzt an seinem Schreibtisch in der Ecke einer ansonsten leeren Lagerhalle. Bis ihn ein Geräusch von außerhalb aufschreckt. Daher stößt er die Tür nach draußen auf und schreitet voran, bis seine Augen die angrenzende Straße vollends fassen können. Doch wie alle Straßen des urbanen Los Angeles ist auch diese leer. Der Mann aber blickt nach links, in die Biegung des Asphalts, weil er einer Illusion verfällt, die nur Tagträumer kennen. Und als er so nach links blickt, rauscht ein Jeep Cherokee voran, schlägt über den Bordstein aus und rotiert in wildester Groteske, bis er auf dem Boden weiter schlittert. Weil dies allerdings die Szene eines Films ist, endet sie nicht, wie sie in der Realität enden würde: Auf den Jeep nämlich folgt ein Taxi; und auf das Taxi ein abgestelltes Harmonium. Derweil reißt der Himmel auf. Ein neuer Tag beginnt.

Ein neuer Tag beginnt ebenso im Gordita Beach Anfang der siebziger Jahre, wo die Sonne ihre Wunden am Pazifik leckt. Dort sehnt sich niemand nach den Gebirgsketten der Transverse Ranges oder den roten Rücklichtsalben des Magnolia Boulevard. Stattdessen kiffen die Hippies tagein tagaus, während vermeintliche Mogule mit Neurosen spielen, die von Klapsmühlen, Horoskopen und Karma handeln. Gordita Beach existiert in der Realität genauso wenig wie Larry Sportello (Joaquin Phoenix). Aber das ist bekanntlich das Schöne am Film: Was auch immer passiert, muss lediglich in unseren Köpfen funktionieren – und selbst dort nicht vollends. So wie dieser Larry Sportello sich als Privatdetektiv sieht, in Wahrheit aber nur zum Stümper mit Potenzial zu Unfug und Krawall taugt, den alle nur Doc nennen. Ein Allgemeinmediziner ist er damit noch lange nicht – sondern vielmehr ein Mediziner für die allgemeinen Wehwehchen seiner Kundschaft. Für den Lieutenant der örtlichen Polizei, Bigfoot Bjornsen (Josh Brolin), ist Doc aber auch ein Mangel, der letztlich wie ein Pickel auf dem Transportweg platzen muss. Scheint die Pazifiksonne zu lange auf Schokolade, schmilzt sie eben irgendwann. So ist das.

Deswegen nannte Thomas Pynchon seinen siebten Roman wohl „Inherent Vice“; nach dem Ausdruck für einen Mangel, der aus einer Interaktion zwischen zwei instabilen Komponenten resultiert und schwerlich vermieden werden kann. Als Doc in einem Bordell einer Fährte nachspürt, findet er neben einem Türspion auf Schamhaarhöhe und einem Pussy-Menu auch Glen Charlock, den Bodyguard des gesuchten Mickey Wolfmann. Ein Schlag auf den Kopf und Doc wacht neben ihm auf. Was das mit einem kollabierenden Jeep und einem säuselnden Harmonium gemein hat? Nicht viel. Aber genau darum geht es: um die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit. Nichts ergibt Sinn – auch das letzte Pizzaabendmahl nicht. „Inherent Vice“ ist zugleich Paul Thomas Andersons neuer, grundsätzlich genialer Spielfilm und die erste autorisierte Adaption eines grundsätzlich genialen Pynchon, die auf die Leinwand rauschen darf. Am ehesten sollte der Zuschauer daher auf Elemente achten, welche aus dem Fundus Andersons in das Marionettentheater Pynchons übergelaufen sind. Wie der Knacks in der Geschichte und die sanfte Orchestrierung Jonny Greenwoods; das intime Aufbäumen Larry Sportellos und das Narrativ ohne Aussage.

Oder der Unfall, welcher „Inherent Vice“ eigentlich ist. Denn unrecht täte jemand dem Film, wenn er ihn seiner Handlung wegen lieben würde; wegen seines Sittengemäldes der Post-Charles-Manson-Ära; wegen den Figuren, die tröpfchenweise auftauchen und strudelartig gehen; wegen des Witzes, der da ist – und doch nicht. Irgendetwas geht in „Inherent Vice“ mit fortlaufender Dauer zugrunde: sei es das Gefühl, Paul Thomas Anderson arbeite sich an einem Thomas Pynchon ab, indem er ihn preziös imitiert, oder sei es das Gefühl, auf einen raffinierten Clou zu hoffen, der nicht kommen kann, weil ihn jeder fürchtet. Was Anderson in der eingangs formulierten Szene aus „Punch-Drunk Love“ noch inszenierte, war ein irritierender Blick vom Inneren ins Äußere, den es nur im Medium Film geben kann. Es brauchte einen Pynchon, um zu merken: Irritationsmomente steigern selbst bei Paul Thomas Anderson nicht immer die Spannung.

„Inherent Vice“ bricht wenigstens Regeln. Die Regel von einer kohärenten Erzählung genauso wie die Regel, eine Erzählung müsse zu etwas gut sein oder zu etwas führen. Aber Paul Thomas Andersons ornamentaler Rohrkrepierer-Epos ist auch ein Genuss über die Zweifel der Unterhaltung. Denn wer alle Regeln bricht, die in heutigen Lichtspielhäusern gelten, der sieht einen Film mit Joint in der einen und Bier in der anderen Hand, streckt die Beine weit aus und dreht sich Lockenwickler in die Haare. Am Ende ist Larry Sportello eine Täuschung, die sich selbst erliegt. Und „Inherent Vice“ ein Film, der gar nicht mehr nur Film sein möchte, sondern ein psychedelischer Drogenschlager über diese womöglich winzig kleine Synapse in unserem Kopf, die nach dem nächsten Zug lechzt. Vielleicht dem Zug nach Hause, vielleicht dem Zug in Thomas Pynchons Hirn. Vielleicht existiert Thomas Pynchon auch nicht. Oder Thomas Pynchon heißt Paul Thomas Anderson. Zumindest aber fährt der Zug. Und wir sitzen in ihm, während wir uns in ihm sitzen sehen. „Inherent Vice“ ist ein Old-Fashion-Fuck, wie er in der Lokalität Chick Planet Massage angeboten wird: stimulierend mit einem Schlag auf den Hinterkopf.

Meinungen

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