Aus hiesigen Landen kommt manch unterschätzter Veteran nur selten zu Ehren. Deshalb widmen wir uns dem Werk von Hans W. Geißendörfer in einer Retrospektive voller Filmschätze. Einer davon heißt „Jonathan“.
Der zweite Spiel- und erste Kinofilm von Hans W. Geißendörfer, „Jonathan“, darf zu einer Sondervorstellung des deutschen Genrefilms gezählt werden. Basierend auf Bram Stokers allseits bekanntem „Dracula“ wird hier eine psychotronische Erfahrung inszeniert, die zwischen Sinnlichkeit und Exzess im traumartigen Zustand verweilt. Das Ambiente ist spät mittelalterlich, aber bis zur Zeitlosigkeit abstrahiert – ebenso minimalistisch treten auch Dialoge und Figurenkonstellation auf. Diese Welt ist wie so oft bei Geißendörfer (verstärkt durch das 4:3-Format) isoliert und somit von unerklärlichem Reiz erfüllt. Robby Müllers Kamera spielt dabei eine entscheidende Rolle, da sie bereits von Anfang an in Plansequenzen durch die Korridore streift und mit urteilsfreier Stille beobachtet. Sie mausert sich mit dem Zuschauer zum objektiven Pol einer Atmosphäre, die provinzielle Gotik im Tauwetter antrifft, Reihen an Vampirmädchen durch Gräber und Wälder tanzen sieht sowie wahllose, gewalttätige Impulse aufspringen lässt.
All dies präsentiert Geißendörfer ohne die erwartbaren Pointierungen eines gängigen Genrewerks. Stattdessen baut er in schwelgerischer Morbidität auf einem losen Handlungsstrang auf, in dem Protagonist Jonathan (Jürgen Jung) als Auskundschafter die Gegend erforscht. Ob nun im Dunkeln, auf freiem Felde oder bäuerlichem Hofe: Die Sicherheit, auf wen oder was Jonathan trifft, ist nicht gegeben und vor allem mit Panik und Wahn gefüttert, die trotz Roland Kovacs Musik in teils frohlockende Befremdlichkeit konterkariert werden. Und doch stechen in diesem Wunderland der Eindrücke bestimmte Farben und Formen heraus: das Purpur der Tapeten, die pechschwarzen Mäntel des Todes und seiner Lakaien, das Rot des genüsslich verspritzten Bluts, das Weiß einer vermeintlichen Unschuld bei Kerzenschein oder auf edlem Marmor. Sie führen die Blicke innerhalb meisterhafter wie offener Kadrierung in entlegene Richtungen und fordern sich gegenseitig zum Aderlass. Letzteres wird ein beinahe erotischer Akt – obgleich die Erotik wie vieles an diesem Film abseits reeller Logik ineinandergreift.
Zum Beispiel tauchen in fast jedem Szenario Tiere auf, wie es auch abseits von Jonathans Reise zum Gesang und freiwillig verbrühten Beinen kommt, ehe die Funktion jener Figuren und ihrer obskuren Momentaufnahmen bekannt wird. Geißendörfers Werk ist ein durchwegs bizarres Panorama, dessen Bilder so lange hängen bleiben, bis es sich richtig und schön anfühlt – narrative Pflichterfüllung ist zweitrangig. Dafür fasziniert die Ekstase der Fantasie schon stark genug. Ohnehin funktioniert der Film ebenso als Abstraktum seiner Entstehungszeit, voll mit Hippie-ähnlichen Gesellen im Bild, einem politisch motivierten, allmächtigen Vampir bis zu dessen kultartigen Jüngern und versklavten Blutspendern. Eine ideologische Absicht wäre aus diesen Grundlagen möglich – doch Geißendörfer bezieht eine eher ambivalente Stellung. Gemäß dem Kontext sind jene Mechanismen mehr als Mutation von Geschichte, Aberglauben, Zeitgeist und ungehaltenen Perversionen zu verstehen – wie ein Traum, der Fremdartiges und Bekanntes aus dem Unterbewusstsein vermengt und zur schaurigen Vertrautheit einlädt.
So stellt der Film eine Brücke her, anhand derer man sich in der Leinwand verlieren und individuell mit der Lust zum Entdecken spielen kann. Wer würde nicht gerne einmal nachts durch ein unbekanntes Schloss taumeln? Wäre es nicht interessant, herauszufinden, was sich dort alles verbirgt? Welch grotesker oder aufgeilender Schabernack getrieben wird? „Jonathan“ bricht dafür Türen auf, macht es aber für niemanden bequem. Vieles vegetiert dahin, stirbt im eigenen Dreck und tritt aufeinander ein, während Nonnen mit einem Strick um den Hals am Baum hängen, Kühe und Schweine verbluten oder Schwerter in Bauernkörper fahren. Und doch spürt man die Schönheit in jenen Abscheulichkeiten, wie die Zerstörung des Schreckens am Meer bezeichnend in Auszügen von Edvard Griegs „Peer Gynt“ endet und Jonathan einsam davon wandert. Dabei wurden wir als Zuschauer gleichsam allein gelassen. Weil „Jonathan“ sich aber einer Kategorisierung verweigert und mit seiner vorbildlichen Eigenart verzaubert, ist er ein wichtiger Begleiter für den deutschen Genrefilm, wie er heute nur noch selten behauptet wird.
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