Es ist eine Sache, einen Film zu sichten, zu bewerten und zu besprechen. Wer sich mit der Materie auskennt, dürfte stets einen Weg finden, alles so konkret wie möglich verarbeiten und bewährte Ausdrucksmittel anwenden zu können. Doch wie bei so vielem im Leben gerät man irgendwann an einen Ausnahmefall. „Love Exposure“ ist so ein Fall und beansprucht mit seinen knapp 238 Minuten Laufzeit eine Menge Aufmerksamkeit, die ein Zuschauer selten für einen Film am Stück einsetzen muss. Addiert man dazu die Autorenschaft eines außergewöhnlichen Künstlers wie Shion Sono ist jede Hoffnung auf Gewöhnlichkeiten vergebens. Das ist natürlich ganz wunderbar, aber nicht gerade einfach zusammenzufassen.
Hauptsächlich geht es in jenem Epos der Perversionen um die Passion von Yû (Takahiro Nishijima), dem als Sohn eines Priesters zwar christliche Nächstenliebe gelehrt wird, diese aber im Verlauf seines Lebens unter denkbar ungewöhnlichen Umständen abspielt. Um seinen Vater nämlich aus der Lethargie einer enttäuschten Liebe zu befreien, fängt er an, immer haarsträubendere Sünden zu begehen, die im Beichtstuhl zur hoffentlich enthemmenden Reaktion führen sollen. Schon hier bewährt sich Yû in der Rolle eines selbstlosen Retters, der von seinem Gegenüber jedoch nicht anerkannt oder sogar verstoßen wird. Bevor sich dieser Leidensweg aber bei seinen Mitmenschen wiederholt, steigt er in der Eskalation seiner Sünden zum Meister der heimlichen Höschenfotografie auf – Schnappschüsse von Mädchenunterwäsche unter knappen Röcken mit extravaganten Moves inklusive.
Sono schafft es stets mit solchen oder ähnlichen Obskuritäten zu überraschen und füllt seinen Film derart stark mit Kurzweil, dass die Produktion nur als Kraftakt bezeichnet werden kann. Massig Eindrücke prasseln flott auf einen ein, während die Geschichte trotz ihrer Vielfalt und Ensemble-Stärke durchaus geradlinig und verständlich bleibt. Dazu gesellen sich klassische Ouvertüren wie Maurice Ravels „Boléro“ in Dauerschleife und ziehen den Zuschauer in einen Sog, wodurch es unter anderem kaum noch überrascht, wann die Titeltafel auftaucht. Umso komplexer entwickelt sich sodann das charakterliche Netz, das sich um Yû spannt, sobald er seine „Maria Magdalena“, Yôko (Hikari Mitsushima), kennenlernt, in einer Verkleidung als Gangsterbraut Sasori aus der Patsche hilft (bitte nicht fragen, wie es dazu kam) und sich in sie verliebt – ein massiver Ständer beweist das einmalige Glück.
Yôko verliebt sich jedoch in Sasori statt in Yû, den sie nur aus der Schule als aufdringlichen Verehrer kennt. Und wenn das nicht schon schlimm genug wäre, kommt Yûs Vaters wieder mit seiner vergangenen Flamme zusammen, die sich auch noch als Mutter von Yôko entpuppt! Doch neben all dem stellt sich die Frage, was die ominöse Koike (Sakura Andô) als Vertreterin der extremistischen Sekte der Zero-Kirche im Schilde führt. Mit der familiären Struktur geht es auf jeden Fall (wie nicht gerade selten bei Sono) bergab. So entwickelt sich das Ringen um Liebe, Glauben und Selbstaufgabe zu einem unberechenbaren Drama, das Wut und Provokation nicht zurückhält, aber in seiner Selbstverständlichkeit immense Charaktertiefe besitzt. Das würde über die Erwartungen hinausgehen, wenn es denn im Verlauf Erwartungen geben könnte. Stattdessen regiert eine Hingabe, die Norm zu verlassen, und darin ein fokussierter Drang zur Empathie. Im Film heißt es bezeichnend: „Ein Perverser hat seine Gründe.“ Und genauso formt Sono seine Charaktere.
Sicherlich besitzt seine Vision reichlich Überakzentuierung und Exploitation – doch hinter der Verspieltheit und den Massen an schwarzem Humor verbirgt sich aufrichtiges Charakterkino, in dem die Akteure Hilfsbereitschaft und Liebe durch moralisches Unkraut ausdrücken; frei nach christlichen Idealen, doch individuell durchgeknallt. Aus diesem Grundgedanken schöpft Sono eine natürliche, doch widersprüchliche Vielfalt. Kastrationen, Schwertkämpfe und Bombenanschläge, Blutfontänen, heilige Schriften, desolate Familienhäuser und Psychen, Gehirnwäsche, Freundschaft unter Ganoven, Action, Coming of Age, Romantik, Melodram, Traumata und so viel mehr: Wo soll man anfangen? Stattdessen bleibt die Freude, dass sich innerhalb der prall gefüllten vier Stunden Wahnwitz beständig Spannung, Humor und einige tief greifende Gefühlswelten finden lassen – und das alles auch noch basierend auf wahren Geschichten. Hier wird so stark geweint, dass sich Blut in die Tränen mischt. Wahrscheinlich ebenso eine Ladung Sperma; so viel Eigensinn macht eben dauersteif.
Umsetzung für das Heimkino
Die neue Blu-ray-Umsetzung von Rapid Eye Movies liefert das gesamte Liebesexponat auf einer Scheibe und präsentiert zum hochauflösendem Bild (inklusive digitalem Grain) ausschließlich japanischen Originalton mit optionalen deutschen Untertiteln. Auf der Disc stellen sich als Extras vor: eine Trailershow zu anderen Veröffentlichungen der sogenannten Nippon Classics (unter anderem „Lone Wolf & Cub“), der Original-Trailer zum Film, Deleted Scenes mit extensivem Fokus auf Yôko, Koike und einer Predigt in der Zero-Kirche (insgesamt 22 Minuten) sowie eine 28-minütige Making-of-Dokumentation. Ein besonderes Schmankerl bietet das beigelegte Booklet, das die im Film geschilderten Ereignisse als Nachrichtenartikel rekreiert oder direkt aus dem Leben abdruckt, je nachdem, wie sehr man dem Reporter dieser Storys, Tom Mes, vertraut. Weit ab von der Realität japanischer Unfassbarkeiten wirken sie jedenfalls nicht. Wer derartige Merkwürdigkeiten sein Eigen nennen will oder den Film bereits längst ins Herz geschlossen hat, ist mit dieser Edition im Schuber auf jeden Fall gut beraten und lädt sich optimales Sehvergnügen ins Heimkino ein.
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