„This is a tale of woe, this is a tale of sorrow, a love denied, a love restored to live beyond tomorrow. Lest we think silence is the place to hide a heavy heart, remember to love and be loved is life itself, without which we are naught“ ist der Epilog von „No Thoroughfare“, einem Theaterstück von Charles Dickens und Wilkie Collins. Nelly Turnan (Felicity Jones), die Protagonistin in Ralph Fiennes neuem Historiendrama „The Invisible Woman“, spricht diesen Epilog gleich zweimal: bereits zum ersten Mal in den ersten zwanzig Minuten des Films und noch einmal gegen Ende. Obwohl sie auf der Bühne eine Rolle spielt, fassen diese wenigen Worte dennoch ihr eigenes Leben zusammen: ihre ewige Liebe zum Autor Charles Dickens. Mit gerade einmal achtzehn Jahren lernen sich die beiden bei den Proben zu „No Thoroughfare“ kennen und mit der Zeit auch lieben. Die jeweilige Faszination für den Anderen besteht von Anfang an. Charles Dickens, der Superstar des 19. Jahrhunderts: Bestseller-Autor und Entertainer, charmant und intellektuell. Nelly Turnam auf der anderen Seite ist jung und wunderschön. Ein richtiger Hingucker – da ist es auch nicht so wichtig, dass sie nicht die talentierteste Schauspielerin ist. Allerdings wird schnell klar, dass das, was zwischen den beiden entflammt, nicht nur oberflächliche Leidenschaft ist, sondern ehrliche Hingabe – ganz einfach Liebe.

„The Invisible Woman“ ist nach „Coriolanus“ die zweite Regiearbeit von Ralph Fiennes. Auch hier widmet sich der Brite einem Stückchen englischer Weltliteratur. Diesmal nicht der elisabethanischen Zeit und einem Shakespearestoff. Stattdessen ist „The Invisible Woman“ ein viktorianisches Bio-Pic im weitesten Sinne. Basierend auf der gleichnamigen Biografie von Claire Tomalin erzählt der Film eine Episode aus Charles Dickens Leben: seine außereheliche Liebesbeziehung zu Nelly Turnam. Vieles davon beruht auf Spekulationen. Die Fakten sind auf wenige beschränkt. Das ist auch das Schöne an Fiennes Arbeit: Der Stoff gewährt viel Freiraum für Fantasie und Romantik. „The Invisible Woman“ versucht nicht historisch korrekt zu sein, sondern eine eindrucksvolle Liebesgeschichte zu erzählen und bleibt dabei nah bei seinen Figuren und ihren Emotionen – ohne dabei die Bildgewalt der viktorianischen Zeit zu vernachlässigen. Er lässt deshalb auch über einige Lücken im Plot hinweg sehen.

Dynamische Bilder, wunderbare Kostüme, ein weißer leere Sandstrand vor der Küste Englands, Reichtum und Armut. Während die einen (Charles Dickens!) in Wohlstand leben und das Leben scheinbar in vollen Zügen genießen können, sieht es auf den Straßen Londons ganz anders aus: obdachlose Kinder, ohne Eltern, ohne Geld, ohne Essen. Es entsteht ein mannigfaltiges Bild einer widersprüchlichen Epoche. Alles nur Anspielungen auf Charles Dickens’ eigene Romane? Ob „Oliver Twist“, „David Copperfield“ oder „Great Expectations“, Ralph Fiennes bedient sich überall, und mag dadurch das Herz des ein oder anderen Dickens-Enthusiasten höher schlagen lassen. Dabei spielt er selbst auch noch den Menschenfreund Charles Dickens als ursympathischen Gentleman, dem man nicht einmal seine Affäre übel nehmen kann. Denn er liebt sie ja wirklich, diese Nelly.

Mittendrin erinnert uns Charles Dickens Ehefrau Catherine, gespielt von Joanna Scanlan daran: „It’s a fiction designed to entertain“. Charles’ ganzes Leben ähnelt einer Fiktion, einem zum Scheitern verurteilten Liebesdrama mit ihm und Nelly als Protagonisten. Dabei bleibt seine Frau Catherine auf der Strecke, die die eigentliche „Invisible Woman“ der Geschichte ist. Sie lebt im Schatten ihres prominenten Ehemanns, kann sich mit ihm nicht intellektuell messen – will sie auch gar nicht – und führt ein einsames, zurückgezogenes Leben mit den zehn gemeinsamen Kindern. Jenseits von Leidenschaft. Denn Charles schottet sich nicht nur metaphorisch und emotional von ihr ab, sondern lässt sogar eine Holzwand zwischen ihrem Gemach und dem seinen erbauen, nur um von ihr auch physisch getrennt zu sein. Nichtsdestotrotz ist Catherine keine typische Opfer-Figur. Sie ist stark und sich ihrer eigenen Situation bewusst. So gibt sie auch Nelly den ehrlichen Ratschlag: „You will find that you must share him with his public. They will be the constant and, in truth, you will never absolutely know which one he loves the most — you or them.“

Die Geschichte von Nelly und ihrem Charles wird in Flashbacks erzählt. Die älternde Nelly ist gerade dabei, eine Schulproduktion von „No Thoroughfare“ zu inszenieren – dem Stück, mit dem alles einst begann – und erinnert sich dabei an ihre gemeinsame Zeit. Dickens ist bereits lange tot. Ihr bleiben nur noch diese Erinnerungen an eine Liebe, die sie nie loslassen wird. Sie lebt nun zusammen mit ihrer neuen Familie an der englischen Küste und findet innere Ruhe in der ländlichen Idylle. Immer wieder zieht es sie an den Strand. Sie streift durch den weißen Sand, genießt die Ruhe und das leise Rauschen des Meeres. So friedlich ihr neues Leben auch scheint, wird sie nie diesen inneren Frieden finden. Denn sie wusste es bereits, als sie damals diesen traurigen Epilog sprach: kein Happy End. Dieses Mal nicht.

Meinungen

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