Dort wo man fickt und kackt, lässt man es auch brennen. Nicolette Krebitz wird dem Titel ihres neuen Films, „Wild“, also in vielerlei Hinsicht gerecht – doch ehe jene wunderbare Eskalation der Natürlichkeit erlebt wird, geht es auf einen tierischen Pfad der Selbsterfahrung. Im Alltag der stilecht verlotterten Stadt Halle (das neue Berlin der Filmwelt?) treffen wir nämlich auf Anja (Lilith Stangenberg), ein unscheinbares Fräulein, das im Büro unter anderem für die Kaffeeversorgung von Chef Boris (Georg Friedrich) zuständig ist, wobei dieser mit ihr hauptsächlich kommuniziert, indem er einen Tennisball an die Scheibe knallt. Diese kleine Absurdität im Gewöhnlichen beobachtet Krebitz ebenso schlicht und kohärent, wie sie auch die Lebensumstände unserer Protagonistin mit konkret-begrenzten Eindrücken nachvollziehen lässt. Jede noch so kleine Abweichung von der Norm reizt zur Entdeckung eines Charakters, der sich zunächst im Dickicht der Allgemeingültigkeit versteckt. „Wild“ ergänzt sich in diesem Sinne gut mit Akiz’ gleichwohl frischem Genrejuwel „Der Nachtmahr“, wenn der Impuls, das Individuelle auszuleben, aus einer Ecke abseits des Menschlichen kommt. In diesem Fall geschieht dies durch einen Wolf, der im Stadtpark umherwandert, als würde ein Märchen der Räudigkeit anklingen. Ähnlich kindlich sieht sich auch Anja von ihm gefangen, unterwegs und bei der Arbeit auf den Spuren des Tieres, das ihr den Weg zum Ich aufzuzeigen scheint.

Zunächst handelt es sich jedoch um den Aufbruch eines Fetischs, da ihr Selbstbewusstsein es schwer hat, angesichts der dominanten Männerwelt Fuß zu fassen. Die Anwendung ihrer Perspektive wird dennoch aufrichtig unternommen, gibt sich aber auch nicht mit Ernst aus, um die Wandlung des Stillen ins Wilde zu stilisieren – stattdessen gibt es eine sinnliche Ladung von James Blakes „Retrograde“. Der Humor des Ganzen macht sich (neben Schönheit und Tragik) überhaupt gerne bemerkbar. Anja hadert aber zudem mit dem gesundheitlich kritischen Zustand ihres Großvaters, dessen Wohnung sie in seiner Abwesenheit verwaltet. Jene Last erschwert sich mit der Zunahme ihrer Faszination, für welche sie sich zu gewagten Plänen entschließt und mit weiteren sympathischen Underdogs der Gesellschaft verbündet. Mit zunehmendem Rückzug aus der Gewöhnlichkeit wird das Normale allerdings erst recht auf sie aufmerksam, wütend und geil. Allen voran Boris möchte sich ihr energischer denn je nähern, verfällt allerdings der Eifersucht und sieht sich in seiner Ehre gegenüber einem ihm unbekannten Reiz verletzt, der sie vom Arbeiten abhält und ihn als Obermacker übertrifft. Ein bisschen von Andrzej Żuławskis „Possession“ oder Roman Polanskis „Ekel“ schwingt in jener Konstruktion mit, wenn Anja sich der Verwahrlosung hingibt und niemanden ins private Paradies einlassen möchte.

Jenes Paradies hat es in sich: So schön die Fantasie eines Wolfs im eigenen Heim auch erscheinen mag – Kraft, Fleischeslust und Lebendigkeit sind der pure Bombast des Primitiven für Anjas einst stillgelegte Welt, die aus jenem Biest die ultimative Selbstentdeckung schöpft. Anteile von Exploitation im Körperbewusstsein spielen da gerne mit, wenn es eine Einheit mit dem Gesamtbild Charakter fördernder Entkopplung ergibt, die das intensive Verständnis zur Natur als profund euphorisiert. Irre sein ist hier sexy und ohne heuchlerischen Pathos für eine Wilde aufgeschlossen, die Fell, Dreck, Blut und rohes Fleisch gegen den trostlosen Horizont aufbietet. Es geht mehr – dirty life statt nur dirty talk. „Wild“ will dabei  nicht ausschließlich die Erotik der Urinstinkte akzentuieren. Doch sie gehört zur Entfesselung des neuen Tiermenschen – eine Rückwärtsdeutung des „Dschungelbuchs“. Im größeren Sinne stellt Nicolette Krebitz’ Werk dar, wie Eigensinn in der Poesie des Besonderen gelingen kann, für die nicht einmal der alles verweigernde Zynismus als Mittel herhalten muss. Das Bekenntnis zum Eigenen bringt Laune, Lust und Fieber – und lässt sich mit jener Konsequenz zum Glück immer häufiger im deutschen Kino der Moderne finden.

Meinungen

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