Eine captivity narrative bzw. ihr Subgenre – die slave narrative – zu verfilmen ist gefährlich, denn ehe man sich versieht, entsteht ein Werk, das vor Kitsch nur so schreit, das zu sentimental ist: schlichtweg zu gewollt menschlich wirkt. Die Thematik der Sklaverei, dieses Stück beschämende US-Geschichte, wurde bereits in zahlreichen filmischen Werken aufgegriffen. Aber seien es Filme wie Quentin Tarantinos „Django Unchained“ (2012), „Glory“ (1989), „Vom Winde verweht“ (1939) oder das legendäre Mini-Serien-Epos „Roots“ („Wurzeln“, 1977-1988): Stets begegnen wir dem ein oder anderen „guten Weißen“, der im Herzen rein ist, sich aber aus seiner sozioökonomischen Lage nicht zu befreien vermag.
Der Verdacht liegt nahe, dass solche vermeintlich unarchetypischen Charaktere von Regisseuren und Drehbuchautoren kreiert werden, um das schlechte Gewissen – die Scham und Reue – der weißen Zuschauer zu mildern, die eigentliche historische Bürde zu schmälern. Wird die Geschichte nach wie vor ausschließlich vom Sieger geschrieben?

Diesem Problem einer kulturhistorischen Blindheit nimmt sich nun der britische, aus der Karibik abstammende, Regisseur Steve McQueen mit seinem Epos „12 Years a Slave“ an. McQueen befasste sich in seinen Kurzfilmen mit Themen wie Rassismus, Ungleichheit, Furcht und unterschwelliger Aggression. Es ist somit nicht so, als hätte er sich an ein ihm gänzlich unbekanntes Terrain herangewagt. Seine Kinofilme wiederum Stellen die Frage nach Moral und Ethik aus der Perspektive eines Einzelnen, nicht unbedingt einer gesamten Gesellschaft. In seinem hochgelobten Werk „Shame“ geht es um Perversion, die Unfähigkeit zu lieben, unpersönlichen Sex und selbstverständlich um Scham. Nach seinem Spielfilmdebüt „Hunger“, in dem sich McQueen in die Welt der IRA hineinbegeben hat, nimmt er sich wieder der Herausforderung an, den Abgrund der menschlichen Seele mit dem Politischen zu verschmelzen.

„12 Years a Slave“ erzählt die Geschichte des Solomon Northup (1807 in Rhode Island geb.), eines freien New Yorker Bürgers, welcher bei einer Reise nach Washington D.C. von Geschäftsleuten unter Drogen gesetzt und an Sklavenhändler verkauft wurde. Man entriss ihn seiner Familie, beraubte ihn seiner Freiheit. So musste er zwischen 1841 und 1853 in Gefangenschaft leben – in einem Louisiana, in dem es einem Farbigen schlechter erging als einem Hund, wo Baumwolle und Zuckerrohr die einzigen Könige nach den Plantagenbesitzern waren. Das Zeugnis dieser zwölf entwürdigenden Jahre verfasste Northup zu einer Erzählung in seinem ersten Jahr in Freiheit: „Twelve Years a Slave: Narrative of Solomon Northup, citizen of New-York, kidnapped in Washington city in 1841, and rescued in 1853, from a cotton plantation near the Red River in Louisiana“ (1853).

Was seine Geschichte zu einem absonderlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit macht, was die Sklaverei ohnehin ist, ist die schlichte Tatsache, dass der in den Nordstaaten geborene Northup als Kind befreiter Sklaven nie Knechtschaft hatte leben müssen, zumindest bis zu jenem Tag, als nicht sein Status des freien Bürgers, sondern seine Hautfarbe über sein weiteres Schicksal entscheiden sollte. Harriet Beecher Stowes wichtiger abolitionistischer Roman „Uncle Tom’s Cabin“ (1852) war reine Fiktion, doch zugleich politisches Manifest, aber Northups „Twelve Years a Slave“ ist eine Wahrheit, die viel zu lange übersehen wurde und auf lange Sicht als viel aussagekräftiger eingestuft werden sollte. McQueen und seinem Drehbuchautor John Ridley gelingt es gekonnt der teilweise sehr nüchternen Erzählung Northups ein Stück Menschlichkeit und Empathie abzuverlangen, ohne dabei die Fakten zu verfälschen.

In Northups Erzählung, wie auch in McQueens Film, erscheint zunächst alles wie ein böser Traum, als Solomon (bemerkenswert gespielt von Chiwetel Ejiofor) plötzlich in Ketten gelegt in einem dunklen Kerker erwacht. Ihm ist nicht bewusst, wie ihm geschieht. Anfangs beharrt er noch darauf frei zu sein, er erklärt immer wieder, dass er ein freier Bürger ist, doch schnell muss er lernen, dass diese vermeintliche Lüge, diese unverschämte Behauptung mit nichts als Peitschenhieben, Hohn und Spott belohnt wird. Aus Solomon, einem gebildeten Gentleman, der gemeinsam mit Frau und Kindern ein angenehmes Leben in einem schönen Haus im Staate New York führte, ist über Nacht ein Mensch ohne Rechte, der Sklave Platt geworden. Es beginnt eine Odyssee der Qualen. In New Orleans vom Plantagenbesitzer William Ford (Benedict Cumberbatch) gekauft, legt sich Solomon bald mit dem Aufseher Tibeats (Paul Dano) an und wechselt als Konsequenz seinen Besitzer. Der einst selbstbewusste Solomon wird nach und nach entmündigt und entmutigt, wir sehen, wie seine Hoffnung schwindet, seine Seele Stück für Stück zerbricht, während er täglich von früh bis spät auf dem Baumwollfeld für den unmenschlichen „Sklavenbrecher“ Edwin Epps (Michael Fassbender) im Akkord ackert. Die Monotonie der Plantagenarbeit wird nur von Bestrafungen und Peitschenhieben durchbrochen.

McQueen und seine Crew drehten den Film an Originalschauplätzen, ehemaligen Plantagen auf dem Boden Louisianas. Dass der alte, zornige Geist jener Verbrechen anwesend ist, spürt man. Trauerweiden und Mangrovenbäume betonen diese gespenstische Aura nur um ein weiteres. Die gesamte Kinematografie, besonders das Spiel aus Schatten und Licht, ist beeindruckend ästhetisch und bietet einen unheimlichen Kontrast zu der ansonsten so realistischen Darstellung. Jeder Peitschenhieb, den Solomon und seine Leidensgenossen ertragen müssen, lässt den Zuschauer an einer schockierenden Ohnmacht teilhaben, wirkt makaber, grotesk, weil er doch so erschütternd real ist. Trotz seiner vielen Dialoge im Slang der Antebellum-Südstaaten ist „12 Years a Slave“ ein eher stiller Film. Jene Stille ist es, die dem Publikum Zeit zum Nachdenken, Leiden und Trauern lässt. Ohne verkünstelt oder verkrampft zu sein, ist es McQueen gelungen, eine selten da gewesene Poetik zu erschaffen, die so subtil ist, dass Terrence Malick, der vermeintliche Gott der Stille und anmutigen Schönheit, hier in die Knie gehen dürfte.

Das Spiel der so unterschiedlichen Charaktere, welches von hervorragenden darstellerischen Leistungen getragen wird, ist voller Kontraste: der sadistische und ungebildete Trunkenbold Epps ist Gegenspieler des intellektuellen und sanftmütigen Solomon und die so damenhaft wirkende, aber krankhaft eifersüchtige und gnadenlose Gattin Epps’ (Sarah Paulson) ist das absolute Gegenteil von der hart arbeitenden, burschikosen und von Master Epps missbrauchten Patsey (Lupita Nyong’o). All dies führt die psychischen Folgen der Sklaverei auf sehr vielseitige Weise auf, er macht das Unverständliche verständlich und zeigt, dass vom Sklaven bis zum Master keiner unbefleckt und unbekümmert aus der pathologischen Gesellschaft der amerikanischen Südstaaten hervorgehen konnte. Denn dafür waren die Verbrechen, der angerichtete Schaden, zu immens.

„12 Years a Slave“ ist ein ausgezeichnetes Beispiel für den Umgang mit kultureller Diaspora, in welcher es erst den Folgegenerationen gelingt die Gewalt, die an einer Minderheit verübt wurde, in seiner Gänze zu erfassen. In dieser Hinsicht ist McQueens neuer Film ähnlich gelungen und beschämend wie „Sophies Entscheidung“ (1982) von Regisseur Alan J. Pakula. Hier wird uns eine anspruchsvolle und dennoch massentaugliche Geschichtsaufarbeitung aufgezeigt, indem das Publikum bewusst und gekonnt aus dem Segen und der Seligkeit der Unwissenheit entrissen wird. Ein starkes Stück Film, das relevant ist. „12 Years a Slave“ ist gelungener black diva citizenship, also das methodisch unkonventionelle Aufbegehren eines privilegierten Mitglieds einer unterprivilegierten Minderheit, die Stimme für diejenigen zu erheben, die es selbst nicht vermögen. Er macht uns unumstößlich bewusst, dass es bei Unterdrückung immer einen lauten, grausamen Aufschrei braucht, um sich endlich Gehör zu verschaffen. Was die Thematik der Sklaverei betrifft, so ist es der wohl erste Film, der in sich so stark und zugleich verstörend ist, wie Toni Morrisons postmoderner Roman „Menschenkind“ (im Original „Beloved“, 1987). Wie „Menschenkind“ zeigt uns „12 Years a Slave“, welche Schmerzen die afroamerikanische Bevölkerung tatsächlich überwinden musste, um endlich frei denken, fühlen und leben zu können. Ein Prozess, der wahrscheinlich noch für längere Zeit nicht abgeschlossen sein wird.

McQueen macht ein wichtiges, wenn auch düsteres Kapitel der US-Geschichte auf bedrückende Weise greifbar und haucht ihm Leben ein. Es gelingt ihm, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, wie es selten der Fall war, real werden zu lassen. Geschichte ist in „12 Years a Slave“ nicht länger eine Anreihung abstrakt wirkender Fakten oder eine rührselig anmutende, verharmlosende Kitschorgie, sondern sie ist schonungslos, unangenehm, nackt, befremdlich, aber vor allem wahr – minimale Regie und Drehbuchfehler seien hierbei verziehen. Brutal in seiner Ehrlichkeit verletzt uns dieser Film im innersten unserer Seele und ist viel mehr als nur eine autobiografische Abhandlung. „12 Years a Slave“ zwingt den Zuschauer dazu, sich der Wahrheit zu stellen und ermöglicht ihm dennoch eine Katharsis, anstelle eines Traumas. Es ist einer dieser Filme, die selbst in die Geschichte eingehen werden. Ihn zu sehen ist eine seltene Ehre, die dem Publikum für gewöhnlich gerade einmal alle zehn Jahre zuteilwird.

Meinungen

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Kinostart: 16.02.2017

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