Eine Illusion. Eine Illusion in Chanel, Louis Vuitton, Hermès, Fendi, Oscar de la Renta und Missoni. „Blue Moon“, ein Blick, die Liebe, „and when I looked the Moon had turned to gold”. Wenn die Illusion inklusive des Geldes flieht, dann heißt es jedoch in erster Klasse von Ost- nach Westküste tingeln, mit immerhin noch vier Koffern Hermès, denn Koffer mit Monogrammen lassen sich schwerlich verkaufen. Alle nennen sie Jasmine (Cate Blanchett). Nur ist nicht nur ihre Vergangenheit eine Illusion, sondern sie selbst eine. Umhüllt von Schweiß und Tränen sucht Jasmine im Zwang ein neues Leben bei ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins, prinzipiell „Happy-Go-Lucky“) in San Francisco. Querfeldein durch die Staaten, hinein in die personifizierte Hölle, glaubten wir Jasmine. Doch die Eltern, welche sie und Ginger aufzogen, sind nicht ihre eigenen; Ginger nicht ihre wahre Schwester (sollte sie denn eine habe); und der Mann, Hal (Alec Baldwin), der ihr Liebe erklärte, unterstützte sie mit dubiosen wie illegalen Finanzplänen, bevor sie ihn als Schürzenjäger identifizierte. In Jasmines Welt dreht sich der Planet um sie.

Das noch melancholische Suchen und Finden einer Liebe in Richard Rodgers und Lorenz Harts Popsong „Blue Moon“ führt in Woody Allens Rezitation „Blue Jasmine“ jedoch zu einem Ausdruck des kontextualisierten Verlusts und der Fassaden. Weniger als die plumpen Tourismusrevuephrasen in „Midnight und Paris“ und „To Rome With Love“ misst Allen die menschliche Nostalgiefabrik innerhalb ihrer Tragik und Selbstsuche ab, obwohl das Klischee einer verlorenen Frau im Korsett der Realität und inmitten der Arbeiterklasse doch ein leichtes zu persiflieren wäre. Stattdessen wächst die Neurose aus den sonnig-frohlockenden Straßen San Franciscos; und selbst die Wolkenkratzer New Yorks schwinden zu einer Suppe ehemals bezaubernder Romantik.

Denn niemals illustriert diese Königin von Versailles mehr als ein Gebilde, eine Farce des Zeitvertreibs mittels Yoga, Pilates und dem Freigang ihrer Louis Vuittons, mehr als eine Idee, welche sie selbst kreierte und in den Jahren statuierte, doch zerbirst, als sie in der Realität aufprallt. Beraubt, orientierungslos, verstoßen, in Selbstgesprächen und wirren Erinnerungen an Glamour und Protz versunken. Zunächst fertigte sie eine Rolle für sich, die ihr erlaubte in der feinen Gesellschaft Salti zu schlagen und sich nachdrücklich in der Beziehung zu Hal verankerte und jenem Bild eines Ideals, welches sie zu projizieren vermochte: beide verliebt, er erfolgreich, sie eine Künstlerin fanatischer Abendessen in Manhattan, Neid in jedem Blick von außen. Aber all dies begründet sich aus einem sogar schlichten Fundament der Lügen. Jasmine ist nicht ihr wirklicher Name, nur jener, den sie für sich selbst wählte, weil er exotischer als Jeanette klang und die tadellos studierte Geschichte trägt, als sie und Hal sich zu „Blue Moon“ trafen. Sowohl ihre Ehe als auch ihr Wohlstand formen lediglich Schall und Rauch – Hal vergnügt sich gleich mit mehreren exotischen Au-pairs, während Jasmine um ihre Contenance ringt und Hals finanzieller Schwindel immer offensichtlicher hervorsticht. Geld fließt, doch woher, warum und ob der Wohlstand ein rechter ist, dass interessiert Jasmine nicht im geringsten.

Nun, da der Vorhang fiel, wirkt die Illusion der Jasmine Francis nicht länger tragbar, denn ohne Heirat und Geld kann sie sich lediglich auf ihre Persönlichkeit verlassen – nur besitzt sie keine. In San Francisco probt sie eine Neuentdeckung ihrer selbst, doch das Geschäft platzt. Obwohl Jasmine häufig biestig in die für sie allzu hässliche Welt stolpert, fasziniert sie uns dennoch in ihrer Mimik, ihrer verzweifelten Schau und den fein säuberlich gestrickten Sabotagen ihrer Mitmenschen, die sie in aller Unsympathie noch ernstnehmen. Möchten wir nicht sagen: Jene, die in den Wohlstand einheiraten, mögen verdorben und privilegiert sein, sogar nachdem sie ihn verlieren? In dem Versuch das süße Leben gegen das marode, gewöhnliche einzutauschen, müht sich Jasmine als Sprechstundenhilfe eines Zahnarztes (Michael Stuhlbarg), er findet sie attraktiv, belästigt sie. Doch entsetzt ist sie von seinem Verhalten nicht, weil es unangemessen wäre. Die Todsünde des Arztes bleibt vielmehr, er habe Jasmine in ihrem wohlfeilen Elend gesehen. Einige Szenen später seziert Allen eben jene Sequenz, als sie eine sagenhafte Hintergrundgeschichte fabriziert, um den kühnen Beinahe-Botschafter Dwight (Peter Sarsgaard) auf einer Party an sich zu binden.

Materialismus diligiert Jasmines Leben. Selbst in den teils wirr gesetzten Rückblenden existiert die Ehe zwischen Jasmine und Hal, zwischen Frau und Mann grundsätzlich, einzig auf dem Papier. Sie spielen Rollen. Jasmine, elegant und interessant, spendet Hal Klasse; Hal gewährt Jasmine im Gegenzug alles. „Gibt es noch irgendetwas, dass du willst, aber noch nicht hast?“, fragt er sie schließlich sanft. Er war Jasmines Isolierrohr zu einem Lebensstil. Dwight ist der Ersatz. Nicht in die Person Dwight verliebt sie sich, sondern in das, was er repräsentiert: den attraktiven Mann mit politischem Anspruch und einem prächtigen, neuen Haus, welches nur allzu dienlich für eine gatsbyeske Feier scheint. Für Jasmine gibt es keine Rettung. Schlimmer noch: Sie bemerkt es nicht.

Aber erst Allens atypische Effektivität im wiederum häufig unfilmischen Dekor, ob er die Situation persifliert oder prüfend inspiziert, lässt „Blue Jasmine“, obwohl durchaus nur überdurchschnittlich, doch exakt in die „Nöte“ der Oberschicht steigen. Gerade weil er einen nur leicht komödiantischen Stil einschlägt und das Folgende einer Selbstverständlichkeit unterwirft, leuchtet der Charakter Jasmines als umso kraft- und schmerzvoller Aspekt. Das Drehbuch jedoch käme kaum ohne Cate Blanchett in dieser immens unverkennbaren Rolle des zwanghaften, frustrierend-ratlosen und doch äußerst tragischen Abbilds Blanche DuBois’ aus. Beide, Allen und Blanchett, kehren die Werke bedeutender Dramaturgen um, explizit jene von Tennessee Williams und darin gesondert „Endstation Sehnsucht“. Das moderne Königtum und nicht der Durchschnittsbürger markiert wieder ein Opfer der Tragödie. Trotzdem ist es keine Tragödie shakespearischer Dimensionen. Kein Blut fließt auf den Straßen. Wenn es gar eine Tragödie geben sollte, dann ist es, zumindest aus Jasmines Sicht, ihre Gefangenschaft in einer Lügenblase und ihre Unfähigkeit den eigenen Fehlerburgen zu entgehen – denn ihre Schwester benötigt das Glück Jasmines nicht.

Kein Blut fließt auf den Straßen, doch gleichzeitig spricht durch Jasmines Eitelkeit und Verblendung, ein Unvermögen Belange zu erfassen, die fern des Wohlstands und Rangs liegen. Dasselbe könnten wir ohne Spott über die Vereinigten Staaten von Amerika sagen. Jasmine und Hal vertreten alle Fehler dieses Staates; selbst wenn es die Selbstsucht realer Pendants nur verstärken sollte, indem Woody Allen diese Jeanette Francis zur Protagonistin kürte. Statt der seltsamen Frau, die zu sich selbst auf den Straßen Manhattans spricht, wird sie zu der seltsamen Frau, die auf den Straßen San Franciscos zu sich spricht. Unendliche Trauer.

Meinungen

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