Fellipe Barbosa ist in Rio de Janeiro geboren und durchlebte eine ähnliche Geschichte wie sein herausragender Protagonist Jean (Thales Cavalcanti) in seinem Debüt „Casa Grande“. In einem riesigen Haus voller Schein und Lüge wächst der 17-jährige Brasilianer in luxuriösen Bedingungen auf: Er wird jeden Tag von einem eigens angestellten Fahrer zur privaten Eliteschule gefahren, das gefährliche Leben in der von Favelas umgebenen Stadt ist für ihn sicher, der besorgte Vater Hugo behält über sensible Alarmanlagen und Überwachungskameras den kontrollierenden Überblick. Plötzlich wird jener Fahrer entlassen, er mache Ferien und besuche seine Familie, wird Jean erzählt. Während er in seinem Kokon reift und die Umstände nicht weiter hinterfragt, sehnt er sich nach ersten Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht. Die private Schule besteht nur aus Jungen, die einzigen weiblichen Figuren in seinem Leben sind seine Mutter, seine nervende Schwester, eine Maid und die junge Haushälterin Rita, bei der er immer wieder Zuflucht und sexuelle Fürsorge sucht. Diese wohnt auch in der Villa, weist ihn jedoch zunächst ab. Jean will etwas erleben, auch deshalb beginnt er langsam dem Kokon zu entschlüpfen.

Eine perfekte Einstellung sagt alles über die zwei Seiten des Vaters: Im maßgeschneiderten Jackett und Hemd skyped er mit einem Geschäftspartner, die Webcam fängt ein seriöses, elegantes Bild ein. Das Gespräch ist vorbei, er steht auf und die angenommene Anzughose existiert nicht; er läuft in Unterhose aus dem Raum. Barbosa schafft es den ganzen Film hindurch, sich mit einfachen, aber effektiven Mitteln auszudrücken. Der Luxus, das Elitäre, die in aller Materie des Hauses verkörperte Dekadenz verfällt, Hugo ist bankrott und sein Imperium beginnt leise zu verstummen. Unglaublich geschickt bebildert Barbosa diesen zarten Schwund, formalistisch und konsequent. Er benutzt gleiche Kameraeinstellungen, um das Fehlen von Gegenständen und Menschen zu präsentieren, an sich ist hier nichts „Schlimmes“ zu finden, vielmehr wird die Fassade der Größe zerrissen und kritisiert. So wird die Anzahl der Angestellten immer geringer, die jeden Morgen am silbernen Tor auf ihren Einlass warten, so wird sogar die beliebte Rita entlassen, nachdem Jeans Mutter in deren Zimmer schnüffelnd Nacktfotos entdeckt, aufgenommen in ihrer heiligen Villa. Ob Rita ein Verhältnis mit Hugo hatte und dieser die Fotos schoss, bleibt offen.  

Das sinkende Einkommen betrifft natürlich auch Jean im großen Maße. Für ihn ist es zeitgleich gut und unangenehm: Einerseits darf er nun den Schulbus benutzen, ein guter Ort um Mädchen aus anderen Schulen kennenzulernen, andererseits schuldet er nach einem Discobesuch einem Freund Geld, das der Vater nicht zurückgeben kann. Jeans Welt bekommt Risse, öffnet sich dadurch und greift seine immer schon da gewesene Affinität zur Gleichbehandlung von allen Menschen auf – egal ob Mulatte, Schwarzer oder Weißer. Er lernt seine erste Liebe Luiza kennen, eine toughe Persönlichkeit, die jene Affinität mit Ausrufezeichen unterstreicht. Sie geht auf eine staatliche Schule, hat Vorfahren aus verschiedener Ethnien und ist eine Befürworterin des in Brasilien heftig diskutierten Quotas-Systems, das die ungerechte Verteilung von Studenten aus privaten und staatlichen Schulen, insbesondere der Farbigen beziehungsweise Mischlingen und der Weißen, seit 2012 ausgleichen soll. Private Schulen werden fast ausnahmslos von Weißen besucht, sie erhalten die bessere Ausbildung und bezahlen dafür. Aus der Sicht von Geldbesessenen wie Hugo und anderen Vätern von Jeans Schulkameraden sollen ihre Kinder bei der Auswahl ihrer Studienplätze einen klaren – ergo bezahlten – Vorteil haben. Nachdem sich Luiza mit Hugo angelegt hat, der mit seinem Geldschwund auch an Kontrolle verliert, zerbricht nicht nur die Beziehung des Paares, obwohl Jean nicht wie sein Vater ist. Er reißt in einem Wutanfall die eiserne Maske der Eltern ab, beide Gesichter strotzen vor Scham.

Jean sucht mit Erfolg nach den entlassenden Angestellten, die in Favelas wohnen. Er gehört zu ihnen, seine Gedanken gleichen ihren, er fühlt sich wohl. Wieder ist hier Barbosas Geschick für eine detaillierte Beschreibung zu loben. Während Jean an der Schule sogar während des Fußballspielens seine Haare ständig zurechtrückte, verhält er sich immer natürlicher und tanzt, aus dem fesselnden Kokon ausgebrochen, mit Rita. Es werden ununterbrochen Bezüge hergestellt aus Vergangenem und Neuem. Dieser erwähnte künstlerische Formalismus rahmt in betonender und diffamierender Weise die vielen Konfliktpunkte des Konformismus in Brasilien ein.

Meinungen

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