„Freistatt“ stellt in der heutigen Filmlandschaft Deutschlands eigentlich ein Unding dar. So handelt es sich entgegen der historischen Hintergründe seines Titel gebenden Ambientes um einen lupenreinen Genrefilm, wie es ihn zuletzt vielleicht mit Manfred Purzers „Randale – Junge Mädchen hinter Gittern“ (1983) gab. Regisseur und Koautor Marc Brummund legt nämlich eine Sause hin, die trotz ihrer technischen Ernsthaftigkeit als klassischer Exploitation-Reißer durchgeht. Daher geht man im Tempo knackig zu Gange und befördert den jugendlichen Halbstarken und Halbzarten Wolfgang (Louis Hofmann) anno 1968 in die norddeutsche Diakonie Freistatt, da Stiefvater Heinz (Uwe Bohm) ihn loswerden will. Dort ist der Alltag aber nur bedingt von christlicher Fürsorge geprägt. Eher erlebt Wolfgang die Stationen eines jeden Gefängnisstreifens an Haut und Haaren und durchschaut die Struktur von herumschnauzenden Aufsehern und brutalen Leidensgenossen, an deren Spitze der sadistische Hausvater Brockmann (Alexander Held) steht.
Der verdonnert die problembehafteten Jugendlichen vom Rücken seines Rosses zu Schweiß und Blut treibenden Arbeiten im Moor – stets mit der Peitsche im Anschlag und dem Schnauzer in der gleißenden Sonne. So kann Wolfgang nicht anders, als sich gegen diese Verhältnisse aufzulehnen. Doch schon beim Widerstand in den eigenen Reihen riskiert er eine große Lippe – und einen flotten Hugo, sobald er überlegt, einige Tomaten aus dem Kleingarten Brockmanns zu stehlen. Das geht natürlich schief, wie auch so mancher Fluchtversuch im Watt versiegt. Darunter haben auch Wolfgangs Mitgefangenen zu leiden, die immer härter bestraft werden, je stärker er die Freiheit verfolgt. Doch als waschechter Held lässt man sich nicht so leicht brechen, macht sich sogar an die Tochter vom Brockmann ran, brät den fiesen Wärtern eins mit der Schippe über und freundet sich mit dem schwarzen Anton (Langston Uibel) an, um eine Referenz an „Flucht in Ketten“ zu erwirken.
Und auch wenn seine Vorhaben meist zum Scheitern verurteilt sind und in unverhältnismäßiger Folter enden: Der Gedanke an seine Mutter Ingrid (Katharina Lorenz) hält ihn wacker – unter anderem auch aus Gründen, die an dieser Stelle nicht verraten werden sollen, aber genauso unfassbar sind wie das Crescendo an Klischees, das sich hier mit effektiver Atemlosigkeit von einer Asozialität zur nächsten hineinsteigert. Mit dreckigem Naturalismus verlangt Regisseur Brummund von seinem Ensemble eine Gefühlsnähe ab, die selbst im Gegensatz zur Abzählbarkeit des Plots und Raffgier der Dialoge unnachgiebig hämmert. In welche Extreme der Film dabei innerhalb seines körnigen 35mm-Zeitkolorits vordringt, ist derart unglaublich, dass es nur noch als klischeebesessen bezeichnet werden kann.
Der große Spaß in diesem Abenteuer kommt aber daher, dass es einem nicht mehr vorgaukeln möchte, als es verspricht. So wird jede Handlungsentwicklung und jeder Satz zur Pointe, während der Grundgedanke die Empathie am Laufen hält und gleichsam auf den Magen schlagende Spannung erzeugt. Da der Großteil jener Suspense allerdings noch immer darin liegt, wie exzessiv die nächste Szene verlaufen könnte, muss man sich fragen, wie ernst die ganze Angelegenheit eigentlich gedacht war und somit vielleicht versagt. Sei es drum: Wie man einen Film gut findet, hängt vom Zuschauer ab. Und in dem Fall bietet sich das Narrativ einladend als Stumpfsinn an, während die audiovisuellen und darstellerischen Leistungen mit Elan in die Bresche springen – wenn sie sich auch teilweise im Schlick dramaturgischer Längen verirren. Aber eben immer noch so verdorben und lautstark in seiner Überspitzung zum Shock Value, dass man vor hämischer Freude rot anläuft. Bitte mehr davon.
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