Ein Mann im Anzug kriecht durch eine Schleuse in der Wand, aus der nur Dunkelheit hervor bricht. Das diesjährige Plakat der Cannes’schen Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs (Directors’ Fortnight) spielt geradezu mit der Düsternis und dem vermeintlichen Licht des ausgegrenzten Raums dahinter, wie vielleicht auch mit den Entdeckungen, die in dieser Blindheit Sturm laufen, weil sie überraschend unerwartbar bleiben. Céline Sciammas Eröffnungsfilm inoffizieller und unabhängiger Rubrik, „Bande de filles“ (ein Haufen von Mädchen, internationaler Titel „Girlhood“), weist dafür auf die französisch-feminine statt der amerikanisch-maskulinen Sicht aus Richard Linklaters aktueller Œuvre-Ergänzung „Boyhood“. Die Herangehensweise unter den Geschlechtern aber lässt vermeintliche Zusammenhänge und jedweden Gedanken an ein Komplementär- oder auch Erweiterungsstück schnell verpuffen. So schön Linklaters rumpelnd-warme Symphonie über das Erwachsenwerden eines Jungen in beinaher Echtzeit, so kalt-funkelnd und protzig kämpft „Bande de filles“ in dem Labyrinth eines Milieus, welches das bebilderte Klischeebild zu Recht unrecht werden lässt. Wo der eine im Zeitraffer das Gefühl einer amerikanischen Jugend in den neunziger Jahren aufstößt, knallt der andere förmlich mit den dünnen Türen in den französischen Plattenbauten. Girls n the Hood heißt es eigentlich in „Bande de filles“. Wer hier Coldplays „Yellow“ als akkurate Untermalung vermutet, setzt sich der überbordend erblühenden Weiblichkeit vier schwarzer Frauen aus. Und die können ordentlich fauchen.

Es beginnt bei Sciamma im Sport und in einer aktionierten Männerdomäne: American Football. In Rüstungen schwärmen die jungen Frauen aus, es geht nicht voran, der Ball müht sich mehr, das Schweinsleder stolpert und holpert langsam in Richtung Field Goal. Dann die Erlösung, endlich, wild quiekende Schreie, übertrumpft von pumpenden Elektronikpopklängen (Sciamma-typisch auch hier wieder beigesteuert vom französischen Musikproduzenten und DJ Para One). Immer diese Beats, denen sie sich unter- und unter jenen sie das Leben auch über sich werfen. Eine mehrere Sekunden lange, schwarze Abblende setzt im Sprint der Freude ein. Auch später wird sie fortwährend Mittel für Sciammas „Bande de filles“ sein, eine Struktur und kontinuierliche, doch lose Gliederungspunkte zu schaffen. „Bande de filles“ verweigert sich der Syntax des konventionellen Coming-of-Age-Films, auch, da er seinen Stil niemals allzu künstlich und den Erfolg niemals allzu befreiend in den Fokus rückt. Die noch epochal anmutenden Momente Linklaters implodieren hier in einer einzigen Szene des Ausbrechens in die Moderne und definitiv in eine neue Zeitrechnung. Aus den Kindern werden Erwachsene, als sie Entscheidungen hinnehmen, die neue Schwierigkeiten kreieren. Es sind keine dringenden Fragen über die Sexualität mehr, die Sciamma sich noch in ihrem Debüt „Water Lilies“ (2007) und dem Nachfolger „Tomboy“ (2011) stellte – ersterer erzählt über Synchronschwimmerinnen, die einander lieben lernen; zweiterer über ein Mädchen, das sich als Junge fühlt. Es ist die Frage um die Existenz vier schwarzer Mädchen, es ist die Frage, wieviel die Hautfarbe in den Vororten Frankreichs, den Banlieues, den Bannmeilen, zu sagen hat.

In den Mittelpunkt rückt der Film zunächst nur die sechzehnjährige Marieme (eine magnetische Karidja Touré). Eigentlich ist sie die Mutter der Familie, die Köchin, wenn die wahre Mutter wegen permanenter Spätschichten als Reinigungskraft abwesend ist, das Opfer verbaler und körperlicher Attacken, wenn ihr Bruder Djibril (Cyril Mendy) seine ungestüme Wut ableiten muss, die Seelsorgerin, wenn ihre zwei jüngeren Schwestern nur raus aus dieser Welt fliehen möchten. Als Marieme aufgrund schlechter Noten die Schule abbricht, flüchtet sie in die Clique um drei andere schwarze Mädchen (angeführt von Assa Sylla als Lady). Dort fluchen, dort klauen, dort zoffen sie – gegeneinander, miteinander, gegen die Parallelwelt in den U-Bahnen, den Kommerz, die Zukunft, die Jungen, gegen den ersten Sex, die erste Liebe, die ersten Drogen. Marieme wird eine von ihnen, obwohl sie die Attitüden nicht gewohnt ist. Die konnte ihr bislang niemand beibringen. Wie auch, wo die einzige, erlebte Kindheit wenigstens die ihrer kleinsten Schwester bleiben soll?

Natürlich meint „Bande de filles“ auch die Klischees, eben um die überall konventionalisierte Struktur des Jugendlebens und Erwachsenwerdens aus dem Coming-of-Age in ein doch analysierendes Abziehbild dieser hier agierenden Mädchen zu formen. Es ist neu, obwohl es überlang, akkurat, flussaufwärts, gewaltig, laut, fragend ist. Ganz wie diese vier Mädchen und besonders das in ihrer neuen Mitte. Marieme taufen sie kurzerhand Vic – für Victory, den Sieg oder Triumph über das alte Leben. Für das Geld, welches sie Kindern vor ihrer alten Schule abziehen, kaufen sie einmal eine Nacht in einem Hotelzimmer, schalten den Fernseher an, fahren den Ton hoch und schlüpfen in die gestohlenen Kleider aus einem Einkaufszentrum, an denen noch die Sicherheitsmagneten baumeln. In der Retrospektive bestimmt Céline Sciamma in dieser Szene, die so prägend für ihren gesamten Film ist, was es mit der Findung von sich selbst auf sich hat. Zunächst blickt Marieme noch auf ihre Freundinnen, ahmt deren Bewegungen nach. Dann findet sie ihre eigenen und ihre eigene Stimme. Bei Céline Sciamma wirkt Authentizität ganz einfach, weil sie wahr ist. Wenn auch nicht perfekt. Aber ihre Stimme wird immer lauter, wie jeder ihrer Filme mehr in die Welt dort draußen tritt. Eine Trilogie über die Jugend einiger Mädchen endet: ganz laut, ganz eigen, ganz bei sich.

Meinungen

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