Die Welt: eine einzige, monochrome Versuchsanordnung. Dort schimmert das kommunistische Polen der sechziger Jahre in Taubengrau und Strahlendweiß, es badet in Reue und abstrakten Facetten, rückt seine Individuen immerfort in ein Abseits des Daseins, wie sie immerfort an den Rand des so antiquierten Academy-Formats gepresst werden. Die Welt: eine einzige, kastenförmige Versuchsanordnung. Wohin es wohl gehen mag, in dieser Welt, die nur noch Symptom ist, aber niemals Leben? In der Tote unter der Erde liegen, aber keiner weiß wo genau? In der ein Recht auf Meinung nicht zwingend ein Recht auf Sprache bedeutet? In der Anna nicht weiß, dass sie Ida heißt? Anna ist Christin, Ida ist Jüdin. Beide sind sie eins – nur wissen sie voneinander, übereinander nichts. Erst Wanda knüpft rüde im Morgenmantel, mit Zigarette in der Hand und Liebschaft im Bett den Kanal zur Wahrheit und gleichsam zur Lüge des Vergangenen. Zunächst jedoch schwärmt Stille durch Paweł Pawlikowskis „Ida“: nüchtern, karg, schneidend; ganz nach der Maxime des französischen Ästhetikers und Regisseurs Robert Bresson, der meinte, man solle einen Film auf Weiß, auf Stille und auf Stillstand bauen. Auch gen Ende kreieren diese Elemente einen absonderlichen Sog.
Währenddessen dosiert Pawlikowski jegliche Kenntnis über die Schatten seiner Protagonisten beinahe abrupt, wenn auch niemals instinkt- oder gar emotionslos, und spannt die Banalität hinter den demütigen, unterprivilegierten Existenzen seiner zwei Frauen in kommunistischen Regeln auf. Doch entgegen ihrem Gleichmut, den sie in ihrem gemeinsamen Erleben spüren, führen die Auswirkungen sie dennoch zusammen. Der jungen Novizin Anna (Agata Trzebuchowska) bleibt keine Wahl, als vor ihrem anstehenden Gelübde die letzte lebende Verwandte Wanda (Agata Kulesza) aufzusuchen. Ob es schon Unmut in ihren allein der Monochromie wegen eigenartig vergrößerten Pupillen ist? Oder eben jener Stillstand, den sie als Waise zugewiesen bekam, wie sie ihn offensichtlich aber auch selbst erwählte? Immerhin meint die Äbtisse, es wäre klug, das Leben und die Wahrheit zu sehen, zu fühlen, zu hören, bevor wohl all dieses Leben und all diese Wahrheit unmöglich wird. Annas jüdische Eltern starben im Zweiten Weltkrieg, doch ein Grab, an dem Trauer möglich ist, das gibt es nicht – in dem Polen jener Zeit gibt es ohnehin wenig außer Alkohol und manchmal Tanz. Beidem ist Wanda nicht abgeneigt, Anna schon. Wenn es um die Bibel geht, bricht jedoch selbst aus ihr latente Kraft.
Aus der offensichtlichen Antithetik der milden Anna und der animalischen Wanda fährt eine seltsam unberechenbare Dynamik, die barocker Lyrik und ihren Kontrasten ebenso folgt wie den wiederkehrenden Motiven des Kreters Nikos Kazantzakis. Dabei entpuppen sie sich niemals als eindimensionale Karikaturen, obwohl sie doch grundunterschiedlichen Generationen angehören. Selbst als Pawlikowski sie mittels eines Road trips durch ländliche Äcker auf Sinnsuche zwingt, wählt er den bewusst komplexen, weil narrativ schwierigen Weg ohne unverhohlene Psychologisierung, ohne Philosophieren, gänzlich ohne Rührseligkeit, sondern mit einer herben Distanz, die dem polnischen Virtuosen Jerzy Kawalerowicz nahe kommt, welcher in seiner Heimat nicht umsonst als „Mann, der alles kann“ bezeichnet wurde. Nun hätte man bislang nicht gewagt, Paweł Pawlikowski auch nur annähernd auf eine Stufe mit den Großen Drei der polnischen Filmkunst zu hieven, bediente er sich doch abseits seiner Wurzeln vollends den Konventionen britischer Produktionen („Last Resort“, „My Summer of Love“) – mal diffus, mal formalistisch, aber durchaus bemüht, die großen Fragen seiner Filme nicht zu leichten Antworten wachsen zu lassen.
„Ida“ jedoch, obgleich sperrig und spröde, hält seinen historischen Rahmen rigoros zurück, sodass der Holocaust als personalisierte Charakterstudie zweier entfremdeter Verwandter fasziniert, die einander zunächst weder leiden noch vertrauen können. Immerzu baut er auf die Präsenz der Agata Trzebuchowska als Anna, die er nach zäher Suche in einem Warschauer Café entdeckte, doch niemals zuvor gespielt hatte, geschweige denn spielen wollte. Der Film liest sich geradezu aus Annas Augen, einer tiefreligiösen Gläubigen ohne Kontakt zur Außenwelt, die permanent ihren Habit trägt und deren Unschuld eine Zartheit ausbildet, während der Film ihre innere Zerbrechlichkeit reflektiert. Einmal spricht sie mit einem jungen Saxophonisten, während sie der Eisenbeschlag des Fensters hinter ihnen wie das Netz einer Spinne einfängt. Vielleicht existiert kein Ausweg aus unserer Vergangenheit und dem Vermächtnis, welches unsere Eltern hinterlassen. Nicht nur sucht Anna der Tod heim, sondern das Leben gleichermaßen. Soll sie dem Weg des Geistes folgen, oder fleischlichen Gelüsten erliegen?
An der Oberfläche mag „Ida“ ein höchst einfacher Film sein, doch darunter verbirgt sich Schicht um Schicht eine elegische Messe über die Unausweichlichkeit menschlicher Fehlbarkeit, über Leid und Schmerz unter dem Mantel memorabler Visualität, die nicht anders kann, als ein ambivalentes Mysterium mittels langer und langsamer Statik in den Stoff des Films zu sticken.
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