Da steht einfach so ein Kamel auf einer Wiese. Ganz gemütlich kaut es ein wenig Gras und blickt ein wenig um sich. Es ist umgeben von einer ländlichen Idylle. Ein alter Bauernhof, der etwas verwahrlost und heruntergekommen scheint. Ein roher Rückzugsort im Süden Italiens. Um genauer zu sein in Umbrien, der einstigen Heimat der Etrusker. Und jetzt steht da eben dieses Kamel. Irgendwie passt es dort zunächst so gar nicht ins Bild. Kurios. Skurril. Vielleicht gar nur ein Scherz? Die deutsch-italienische Regisseurin Alice Rohrwacher stellt die Zuschauer in ihrem zweiten Spielfilm „Land der Wunder“ vor so manches Rätsel und entführt in eine wundersame, vielleicht gar fremde Welt. Bereits auf dem Filmfestival von Cannes gewann das Coming-of-Age-Drama den Grand Prix und wenige Wochen darauf konnte sich Rohrwacher den CineVision-Preis auf dem Filmfest München abholen. Jetzt kommt der Film nun auch in die deutschen Kinos.

Im Zentrum des Films steht eine Familie: Die Eltern entstammen der Post-68er-Generation und sind in die autarke Romantik des italienischen Südens geflohen, um dort frei zu sein. Der deutsche Vater Wolfgang heiratet die Italienerin Angelica. Gemeinsam finden sie ihr Glück auf diesem einsamen Bauernhof. Dort sind sie frei. Unabhängig. Autonom. Mit ihren vier Töchtern führen sie ein Leben abseits von Staat und Gesellschaft. Doch diese Idylle ist schnell vorbei: Denn auch sie kämpfen ums Überleben. Das Geld ist knapp, der Bauernhof verfällt immer mehr. Das Einzige, was ihnen noch bleibt, ist ihre Bienenfarm. Der Schatz der Familie. Ganz behutsam kümmern sich vor allem Wolfgang und die älteste Tochter Gelsomina um die Bienenstöcke und den Naturhonig, den sie produzieren. Die Hippie-Eltern werden schnell zu Randfiguren, zu Karikaturen ihrer selbst. Die Mutter ist überfordert mit allem, der Erziehung ihrer Kinder, der Zweisamkeit mit ihrem Mann, dem Leben. Emotional labil und eine Drama-Queen. Der Vater dagegen hat sich zum Tyrannen entwickelt. Einst aus der Gesellschaft geflohen, um frei von Zucht und Ordnung zu sein, hat er sich nun sein eigenes Familien-Regime aufgebaut, welches langsam zu zerfallen droht.

Doch eigentlich ist das alles ziemlich irrelevant. Denn „Land der Wunder“ konzentriert sich vor allem auf die zwölfjährige Gelsomina, gespielt von Maria Alexandra Lungu. Dabei bleibt die Kamera immer wieder ganz nah an ihrem Gesicht, zeigt es in Großaufnahme. Gelsomina, die Königin der Bienen. Sie hat keine Angst vor ihnen, auch wenn sie ab und an von ihren Schützlingen gestochen wird. Sie strahlt eine ganz besondere Ruhe aus. Eine Biene krabbelt über Gelsominas Gesicht, nähert sich langsam ihren Mund. Dann öffnet das Mädchen diesen ganz allmählich. Eine zweite Biene taucht langsam zwischen den schmalen Lippen auf. Die beiden Bienen gleiten nun über das Gesicht. Keine Spur von Panik. Gelsominas Blick ist noch immer starr und ruhig. So sieht ihre Bienen-Performance aus, die sie immer wieder aufführt, wenn sie ihr Umfeld beeindrucken möchte. So auch bei einer Castingshow, die auf der Suche nach außergewöhnlichen lokalen Traditionen ist. Doch Gelsomina ist nicht traditionell. Gefangen in einem pseudo-freien Leben sehnt sie sich nach allem anderen. Nach Sicherheit und Geborgenheit – auch wenn das bedeutet, Teil der Gesellschaft zu werden. Am liebsten würde sie einfach aus der ländlichen Einöde ausbrechen, denn hier muss sie viel zu schnell erwachsen werden. Sie ist die Einzige, die bereit dazu ist, Verantwortung zu übernehmen. Ständig im Zwiespalt. Das Wohl der Familie oder die Borniertheit des Vaters ertragen …

Obwohl der Plot von „Land der Wunder“ einfach strukturiert wirkt – Teenager kommt in die Pubertät, stellt sich gegen die Werte seiner Eltern, möchte aus dieser Welt flüchten –, gelingt es Rohrwacher, das Innenleben ihrer Protagonistin Gelsomina auf Erzähl- und Bildebene zu spiegeln. Dafür flüchtet der Film in absurde, fantastische Sphären und lässt den Alltagsrealismus, den der Plot suggeriert, in den Hintergrund rücken. Mit einem Gespür für das Subtile setzt Rohrwacher feine Akzente, die so zu einem großen Ganzen zusammenwachsen. Da steht also nun ein Kamel auf der Wiese. Ja, und? Die TV-Moderatorin der Castingshow gleicht einer zauberhaften Fee (Monica Bellucci!), die gerade dem Märchenwald entflohen ist. Ja, und? Genau diese Mischung aus grotesken Skurrilitäten und den ganz normalen Problemen des Lebens und Erwachsenwerdens macht „Land der Wunder“ zu einem besonderen Film, der bewegt und in dem man sich womöglich auch selbst wiedererkennen kann.

Meinungen

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