Niemals schlug ein Film die Magengrube adäquater ein als „Singapore Sling“ mittels seiner grotesk zersetzenden Themen um sexuelle Hingabe, Nekrophilie, Stromschläge und ausbeutender Phänomene. In diesem Gedicht der Perversion konstruiert der griechische Kultregisseur Nikos Nikolaidis eine Oper des Schwachsinns um Machtkämpfe und sexuelle Turnübungen, unterlegt sie mit bizarrer Schönheit und schwelgerischer Ausstattung. Die naturalistische Annäherung vollführt den Hieb in den Verstand mit einem Kniff in den Schritt, der sich gleich einer kranken Prostituierten an uns schmiegt und über das widersprüchliche Verlangen und die Zurückweisung spottet.

Angemessen genug beginnt „Singapore Sling“ in der symbolischen Dunkelheit, der Lust und Sünde einer entfremdeten Landschaft. Ein halb toter Mann (Panos Thanassoulis) kriecht durch den Schlamm zwei Frauen entgegen: Mutter (Michele Valley) und Tochter (Meredyth Herold), welche zunächst die Überreste des letzten Spielzeugs entsorgen. Im Herzen ihres üppig fotografierten Heims spiegelt sich in schattendurchfluteter Eleganz die marode Physis weiblicher Erotik – in tödlicher Schönheit und Wahnsinn. Das neue Haustier wird sogleich benannt: Singapore Sling; ein Cocktail aus Gin, Bénédictine, Grenadine, Limettensaft, Angosturabitter, Ananassaft, Kirsch- und Orangenlikör. Aufwühlend, unbekömmlich.

In dieser surrealen Welt der Femme fatales ist Tod ein Spiel und Sex der Spielzug. Die Frauen frönen angenehmer Zeitvertreibe: Bondage, Sadismus, Masochismus und schockierender Spiele mit zahlreichen Körperflüssigkeiten. Im Fokus steht dabei die Krankheit des Herzens und des Geistes, denn alle drei Marionetten der Fleischeslust steigen fortwährend weiter hinab in die befremdlichen Sauereien aus Irrsinn, Perversion und Schmerz. In „Singapore Sling“ gebärt Tod gleichzeitig Schönheit mit der lieblichen Subjektivität einer Hand, die nach abgewetztem Fleisch greift. Nikolaidis entfacht Ekel, Angst und Ehrfurcht, da er die Gewalt auf ehrliche und grausame Weise hervorhebt, die Charaktere weder verurteilt noch empfiehlt. Zudem bricht er die banale filmische Tradition der Moralisierung, indem er eine Perspektive des wertfreien und nüchternen Außenstehenden wählt und das Gezeigte nicht als Sympathisant emotional auflädt. Schließlich beobachtet er als Formalist die erhitzte Psychologie zwischen diesen drei verwirrt umnachteten Rollen ohne jedes Gefühl. Jede Entscheidung, jede Verurteilung entsteht durch uns.

Sex und Gewalt werden als Seiten des gleichen Impulses porträtiert, Erweiterungen desselben Instinkts. Die Beziehung zwischen Intimität und Befriedigung, Schmerz und Gewalt nahm sich unsere Kultur mit Fingerspitzen an, die mehr einer kapitalistischen Verantwortung entsprach Hausfrauen zu gefallen, als Aufrichtigkeit oder künstlerische Integrität zu fordern. Fern der puritanischen Verbindung von Sex und Liebe eliminiert „Singapore Sling“ die emotionale Sicherheit. Zugleich verweigert er die erschöpfte heuchlerische Haltung des modernen amerikanischen Horrorfilms, sexuelle Befreiung von heftigem Schmerz und Tod folgen zu lassen. Nur dieses griechische Problemkind des Kinos löst das konservative Getue um Sex und Gewalt: Moral versumpft in Urin; und Abscheu und Begierde kämpfen zusammen in einer Grube aus Schweiß, Haut und Blut. Das Ergebnis? Ein Film, der Emotion durch Abscheu stimuliert.

Es gibt keinen Ausweg für die Protagonisten – weder die zwei Frauen, die sich selbst seltsam genug gleichzeitig zu Opfern und Tätern degradieren, noch den Mann, dessen Identität sowohl die einer individuellen Person mit mysteriöser Vorgeschichte annimmt, als auch eines grundsätzlichen Vertreters des Mannes, gefangen in dem Zyklus aus Wahn, Leidenschaft und Zerstörung. Die Hilf- und Hoffnungslosigkeit fängt Bildgestalter Aris Stavrou in Schwarz-Weiß-Fotografie mit einem Tropfen deutschem Expressionismus ein, der weiterhin von einem naturalistischen Luzidgefühl bereichert wird, welches die surreale Atmosphäre dieser Abweichler in eine traumähnliche Welt verfrachtet und dort trotzt wie betont. Mehr noch verdankt der Film dem Noir der 30er und 40er Jahre und ihren grobkörnigen Handlungen des Alltäglichen, die jene in eine Welt des Realismus eintröpfeln ohne die Schönheit als Kunst zu verlieren.

Dabei drückt durch „Singapore Sling“ nicht der Stempel reiner Kunst, eines Exploitationsvehikels, des Horrors oder zügelloser Erotik – eher einer eigens entwickelten Geografie der Beklemmung. Aus jedem dieser Genres stiehlt er die Stimmungen, Erzähltraditionen und stilistische Untermauerung, doch widersetzt sich normierter Bewertungsschemata und vorgefertigter Altlasten. Dieses überambitionierte Biest bedroht alles und fürchtet nichts. Seine Menschheit verschlingt die eigenen fetischistischen Instinkte und Sehnsüchte und bestimmt Sex und Schmerz zu einem ungemütlich geschweißten Duett. Das Ende dann ist ebenso problematisch traditionellen Erzählstrukturen gegenüber, wie seine Themen beißend für die filmische Welt sind, die in der Idiotie des Mainstreams aufwuchs. In seinem Ursprung ist „Singapore Sling“ terroristische Kunst: trostlos, dreist und entschieden entartet. Eine tödliche Verlockung!

Umsetzung für das Heimkino

Sowohl die mutige Entscheidung des Herausgebers Bildstörung diesen obskur beleidigenden Film aufzulegen ist zu bemerken, wie auch die Sorgfalt und Achtung der Präsentation für die Formate DVD und Blu-ray. Dabei liegt „Singapore Sling“ im originalen Kinoformat 1,33:1 im 4:3 Vollbild vor und kommt ohne erkennbare Kratzer im Material aus. Der Ton ist klar in Dolby Digital 2.0 mono, die Untertitel wahlweise auf Deutsch oder Englisch vorhanden. Zudem enthalten ist eine Bonus-Disc mit einem Dokumentarfilm über Regisseur Nikos Nikolaidis, wie auch ein Interview mit und Werbespots von ihm. Ein 11-seitiges Booklet mit einem Essay von Gerd Reda komplettiert den exquisiten Film.

Meinungen

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Kinostart: 16.02.2017

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