Ist es heutzutage eigentlich noch möglich, das Publikum zu überraschen? Zu einer Zuschauerschaft vorzudringen, die gerade im Bereich des Thrillers, von Sadismus erprobten Tötungsmechanismen bis hin zu allen erdenklichen Gräueltaten, schon alles gesehen haben dürfte? Lassen sich die Freunde Nerven zerrender Anspannung immer noch an der Gurgel packen und aus ihrer Lethargie und Monotonie reißen? „Der Tod weint rote Tränen“ ist so ein Kandidat, dem dies bravourös zu gelingen scheint. Bruno Forzani und seine Partnerin Hélène Cattet lassen ausgetretene Genrepfade ebenso hinter sich, wie sie die leidige Klassifikation für ihren zweiten abendfüllenden Spielfilm meiden. Selbst die formellen Zwänge des von ihnen gehuldigten Giallo schütteln sie mühelos ab. Wobei ihr Werk das Publikum gnadenlos spaltet, was vollends beabsichtigt sein dürfte. Denn dieser Film beginnt nur als Geschichte eines Mannes, der auf der Suche nach seiner verschwundenen Gattin ist. Zusehends wandelt sich das Geschehen zu einem avantgardistischen Kunstdrama. Offenbart wird letztlich eine Vision zweier Talente, die ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt wurde.

Dies wird jene gewaltig vor den Kopf stoßen, welche die berauschende Wirkung von Bildern mit Berieselung gleichsetzen. Jene, die vielleicht auf eine nachvollziehbare Handlung und auf einen Psychopathen aus der Hannibal-Lecter-Schule gehofft hatten. Aber Hélène Cattet und Bruno Forzani scheren sich gar nicht darum, derartige Erwartungen zu bedienen. Was natürlich Kanonenfutter für alle bedeutet, die sich nicht über den Abspann mit dem Gezeigten beschäftigen können oder wollen. Und dabei womöglich die traumwandlerische Ambivalenz der Ereignisse als substanzlos und inhaltsleer abtun.

Dabei ist es der große Kniff von „Der Tod weint rote Tränen“, einerseits eine formidable Verbeugung vor dem Giallo und seinen inhaltlichen Motiven zu sein. Andererseits aber ein Seherlebnis zu verkörpern, welches die Sinneswahrnehmung in Beschlag nimmt und den Betrachter dazu drängt, die Teile des Puzzles selbst zusammenzusetzen. Was natürlich dadurch enorm erschwert wird, da die inhaltliche Struktur zunehmend bröckelt und aufgebrochen wird. Lediglich zu Beginn dreht sich alles rein um die Frage nach dem Verbleib der Frau unseres Protagonisten Dan Kristensen (Klaus Tange). Über die Erkundung des prächtigen Wohnhauses im Jugendstil, den zweifelnden Kommissar (Jean-Michel Vovk) und einer anonymen Mietergemeinschaft gerät „Der Tod weint rote Tränen“ zunehmend zu einer Beobachtung männlicher Obsession und Begierde. Der Blick hinter die kunstvoll verzierten Wände des Hauses wird zu einem Vorstoß in eine Welt verdeckter Perversion. Fast scheint es, Cattet und Forzani lassen ihre Figuren hinter jenen berüchtigten schwarzen Vorhang der Videotheken treten, der damals die Actionfilme von den Sextiteln trennte. Da geht es eben nicht mehr darum, das ganz in Schwarz gehüllte Ungetüm im Ledermantel zu demaskieren. Oder sich mit der Frage aufzuhalten, in welcher Beziehung es zur mysteriösen Frau in Rot steht. Viel mehr stehen ganz am Ende die männlichen Figuren und ihr abgründiges Verlangen im Fokus. Der Ehemann, der Ermittler und auch der schroffe Vermieter: Jeder Charakter jagt seinem eigenen weiblichen Phantom hinterher. Einer verführerischen Chimäre, die mit welcher Verheißung auch immer lockt. Aber dennoch unerreichbar bleibt.

Trotzdem kann dem Regieduo nicht vorgeworfen werden, ihre Krimihandlung lediglich als Vorwand benutzt zu haben. Auch wenn es scheint, beide würden sämtliche Möglichkeiten der Mise en Scène bei ihrer Kriegsführung mit dem Publikum ausreizen, ziehen sich Lust und ihre Gräueltaten als blutroter Faden durch die Geschichte. Mit dem signifikanten Unterschied, dass „Der Tod weint rote Tränen“ das Verbinden von Punkt A und B durch Geraden dem Zuschauer überlässt. Genau deswegen stellt der Film ein eher rares Phänomen der heutigen Zeit dar. Ein Erlebnis, für das sich Zeit genommen werden muss. Obwohl eindeutig Hommage an ein bestimmtes Genre, wird hier nichts nachgeäfft oder per Strichliste abgearbeitet. Bruno Forzani und Hélène Cattet wagen es glatt, dem aufgeschlossenen Publikum etwas eigenständiges vorzusetzen. Vielleicht, weil sie verstanden haben, dass es nicht reicht, mit Fingerfarben die Mona Lisa zu übertünchen, um sich selbst als Künstler zu bezeichnen. Lieber präsentieren sie ihr Werk als verworrenes, überdetailreiches Mosaik, das in mühevoller Kleinstarbeit erdacht und durchkomponiert wurde. Es wäre doch zu schade gewesen, diese Aura am Ende nüchternem Faktenwissen und einer banalen Auflösung zu opfern.

Stattdessen verbleiben viele Fragen im Konjunktiv und „Der Tod weint rote Tränen“ erscheint am Ende wie ein Traum. Als solcher ist es nur konsequent, dass der Film sich ständig der Antwort verweigert. Wichtiger ist der Wirkungsgrad, mit dem etwas von der Magie zurückkehrt, die jeder neue Film uns als Kind bescherte. Etwas völlig Neues, Rätselhaftes und auch Unheimliches zu sein, das uns noch tage- und nächtelang beschäftigen konnte.

Meinungen

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