In welche Extreme sich das asiatische Kino noch steigern kann, ist in nächster Zeit nicht abzusehen, weil es ohnehin seit jeher eine Sache für sich ist. Als einer der derzeit aktiven Vertreter dieser Mentalität macht sich Regisseur Shion Sono dann auch keine Gedanken, wann irgendwann genug sein soll oder ob der Zuschauer überhaupt noch mithalten muss. Seine Manga-Verfilmung „Tokyo Tribe“ ist bereits von der Prämisse her aufsehenerregend und abschreckend zugleich: Mit zwei Stunden Laufzeit dreht er ein unnachgiebiges Hip-Hop-Musical, das den subkulturellen Schmelztiegel Tokios im permanenten Beat an Perversitäten und Handgreiflichkeiten präsentiert. Die audiovisuelle Gestaltung hält sich dabei stets an der Spitze menschenmöglicher Geilheit auf: Die künstliche Studiowelt – nah an der Postapokalypse, aber in erdrückendem Neon-Bling – montiert sich durch rasende Ghetto-Szenarien, fährt mit der Steadicam durch grell gekleidete Menschenmassen, die des Nachts allerhand Exzesse betreiben. So ist es auch unsinnig, sich an Handlung und Namen aufzuhalten, da diese einerseits simpel sind, andererseits aber im Schnitt durch den Fleischwolf gedreht werden.
Sonos Erzählstil wechselt je nach Laune von einem Subplot zum nächsten und probiert chaotisch alle Rhythmen durch – Ruhepausen bleiben aus. Stattdessen entfacht er einen Rausch rotziger Musikalität, der im Einklang mit der überspitzten Unterwelt des Films steht. Goldene Gangsterbosse regieren mit Dildos und Maschinengewehren in der Hand, verdrehen die Augen und knabbern an abgeschnittenen Fingern; Irre mit Zöpfen halten nackte Menschen als lebende Statuen; ein fluchender Hohepriester sucht fürs jährliche Opfer seine Tochter, die zur Prostitution gezwungen wird, zusammen mit ihrem kindlichen Sidekick aber reichlich Dresche verteilt; ein schwarzer Superfighter kickt Menschen mehrere Meter hoch und verlangt nach einer Sauna. Und wenn das noch nicht reicht, gesellt sich einfach mal ein süßer Corgi an den Essenstisch. Man darf reichlich bizarre Eigenarten erwarten, aber kein klassisches Filmkonstrukt oder gar moralische Zurückhaltung. Blanke Brüste lassen sich durchkneten und Höschen blitzen auf, während mit sexueller Gewalt sowie dicken Schwänzen geprahlt wird und die Raps keine noch so primitive Plattitüde auslassen.
Sono versteift sich aber nicht auf irgendwelche Ideologien, sondern genießt sein formloses Chaos, das bis zur Eskalation aller urbanen Stämme schamlos ausbeutet und aufgeilt. Das bringt absurden Spaß und ein gewisses Maß an Erschöpfung, allerdings auch eine Grenzenlosigkeit des Wildseins, wie man es dieser Tage höchstens noch von „Mad Max – Fury Road“ kennt. Endlose Eindrücke reißen sich fern entschiedener Auflösungen um die Aufmerksamkeit von Aug und Ohr; Martial Arts und Gangs mit Samurai-Panzern verbünden sich anhand von Rap Battles zum bunten Handgemenge gegen die Bösen; härtegeprüft und superräudig fetzt sich die Musik durch überschwängliche Plansequenzen voll slapstickhafter Einzelbilder. Wie so oft im asiatischen Kino stellt man fest: So etwas hat man noch nicht gesehen. Ob es für jedermann gut zu goutieren geht, steht auf einem anderen Blatt. Ohnehin bleibt neben dem reinen Unterhaltungsfaktor pausenloser Maxime nicht viel übrig. Doch wer es dreckig mag und mit abwegiger Energie vollgepumpt werden will, dürfte am „Tokyo Tribe“ und seinem naivem Höllenschlund durchaus Gefallen finden.
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